Feminist aus ethnologischer Leidenschaft

■ Ein respektloser Schwiegersohn: Paul Lafargues Hohelied auf die Kurtisane und auf andere Seiten der Beziehungen zwischen Männern und Frauen

Einem Mann geschieht, was sonst Frauen passiert. Er wird über einen anderen definiert, als Schwiegersohn von niemand Geringerem als Karl Marx: Paul Lafargue, französischer Sozialist, Revolutionär, Journalist.

Dabei sind seine eigenen Werke spannend und eigenständig, stehen in erfrischender Weise oft quer zu dem vermufften Denken des Altmeisters materialistischer Philosophie. Dies beweisen nicht zuletzt Lafargues jüngst unter dem Titel „Geschlechterverhältnisse“ erschienenen ausgewählten Schriften. Der Herausgeber Fritz Keller hat hier kleinere Texte von Paul Lafargue zusammengetragen, die sich überwiegend mit den Machtstrukturen zwischen Männern und Frauen auseinandersetzen. Es mag auch gerade an der „Weichheit“ von Lafargues Themen liegen und an seiner satirischen Feder, daß er bisher wenig als eigenständiger Denker gewürdigt wird.

Der in dem ehedem orthodoxen Argument Verlag erschienene Band enthält die Schriften Lafargues, die man nach heutigen Kategorien „ethnologisch“ nennen würde. Der studierte Arzt und Sozialist, der Mitte des 19. Jahrhunderts geboren und allenfalls durch seine ketzerische Schrift gegen das Hohelied auf die Arbeit, nämlich durch sein „Lob der Faulheit“ bekannt wurde, hat hier eine Fülle ethnologisch-volkskundlichen Materials zusammengetragen. Er hat es mit großer Respektlosigkeit auch gegen die Fachkoryphäen seiner Zeit ganz eigen interpretiert.

Dabei rücken unversehens höchst aktuelle Fragen nach dem Verhältnis von Geschlecht und Eigentum in den Vordergrund. Ausgehend von der Mutterrechtsdebatte seit Bachofen liest Lafargue Volkslieder, populäre Schriften und Riten neu. „Der wahre Dichter ist das Volk“, sagt Lafargue in verblüffender Einfachheit. Es komme nur darauf an, die Texte dieses „Volkes“ zu lesen. Und das tut der Autor mit Begeisterung.

An vermeintlich traditionell- konservativen Hochzeitsliedern und -bräuchen weist er nicht nur nach, mit wieviel abwehrendem Unverständnis die Wissenschaftler an diese Schriften herangegangen sind, sondern zeigt auch, was eigentlich in ihnen steckt, wenn man sie richtig liest.

Während herkömmlicherweise die ethnologische Forschung ihr Augenmerk etwa auf die Rituale von der Entführung der Braut richtet und sie lediglich als (notwendige) Übergangsrituale begreift, entschlüsselt Lafargue diese Szenen im Kontext mit den Liedern auch als Frage des Eigentums: Der Übergang von der Macht des Vaters auf die des Ehemannes. Die Hochzeitslieder bringen die Angst, Verachtung und Abwehr gegenüber dieser Machtstruktur zum Ausdruck: „Ich wollt', es käme ein Erlaß, allen alten Ehemännern die Haut abzuzieh'n; ich würde den meinen schinden bei lebendigem Leib“, singt die Witwe am Grab ihres verstorbenen Mannes in der Champagne. Für Lafargue sind diese und unzählige andere Texte, die er in Frankreich zusammengetragen hat, Belege für den mehr oder minder deutlich beschriebenen Kampf der Geschlechter und die Abwehr gegenüber dem Patriarchat. Und genau dies verweise auf die vernichteten matriarchalen Strukturen innerhalb der europäischen Kulturen. Es ist eine Zerstörung, die mit der Dominanz der Eigentumsstrukturen einhergehe, die in matriarchalen Gesellschaften aber immer eine größere Gleichberechtigung hervorgebracht hätten.

Vor diesem Hintergrund singt Lafargue auch ein ironisch pointiertes Hohelied auf die Kurtisane, die im 19. Jahrhundert als Frau die kapitalistischen Eigentums- und Geschlechtsverhältnisse klar auf den Begriff gebracht habe und sich dadurch gleichzeitig ihre (sicherlich relativ zu sehende) Unabhängigkeit bewahrt habe. Eine Dimension, die später Walter Benjamin im Passagen-Werk implizit aufgreift, wenn er die Prostituierte als den Inbegriff des Warencharakters kapitalistischer Beziehungen begreift.

Paul Lafargues Thesen über die Geschlechterbeziehungen, die man mit viel Gewinn lesen kann, treffen sich allgemein gewiß mit den Kapitalismusanalysen von Karl Marx. Die konsequente Verlängerung dieser Analyse auf die alltäglichen Beziehungen zwischen Frauen und Männern mußten seinen Schwiegervater jedoch eher erzürnen. Zumindest hat der Alte die Verbindung seiner Tochter Laura zu Paul Lafargue nie sonderlich gemocht.

Vor allem hat er sich aber häufig autoritär gegen das radikale Engagement seines Schwiegersohns in der sozialistischen Bewegung gewandt. Das konnte aber Paul Lafargue nicht daran hindern, seine Ideen in politischen Zeitungen und als Deputierter zu vertreten – bis zur Konsequenz der Verhaftung.

Diesen biographisch-historischen Hintergrund kann man im kenntnisreichen Nachwort des Herausgebers Fritz Keller erfahren, der sich allerdings überwiegend auf die Lebenschronolgie beschränkt und sich wenig darum bemüht, Werk und Person in Beziehung zu setzen. Dadurch geht das verloren, was Lafargues Radikalität ausmacht in einer Zeit, in der selbst in radikalsozialistischen Bewegungen die Geschlechterfrage nicht aktuell war. Selbst ein Anarchist wie Proudhon konnte sich die Frau nur in der Rolle als Hausfrau oder Kurtisane vorstellen. In diesen Männerklüngel paßte der „Abkömmling eines Gorillas“, der „Kreolenschädel“, der „Negriloo“, wie Marx sich rassistisch über Lafargue ausließ, erfreulich wenig hinein. Thomas Kleinspehn

Paul Lafargue: „Geschlechterverhältnisse. Ausgewählte Schriften“. Herausgegeben von Fritz Keller mit einer Einleitung von Frigga Haug, Hamburg, Argument Verlag 1995, 48 DM