„Der LKW?“ „Brennt.“

„Ins Offene“ von Michael Wildenhain im Theater am Halleschen Ufer: ein Lehrstück ohne Lehre  ■ Von Gerd Hartmann

Wie kann man politisches Theater schreiben in einer Zeit, wo Agitprop nur Gähnen verursacht, die Utopien vom Horizont verschwunden sind, die unmittelbare Realität in den zweidimensionalen Medien viel besser nachgestellt werden kann als auf der Bühne. Michael Wildenhain kann. Seit fast zehn Jahren und mit wachsendem Erfolg. Neben Romanen, Erzählungen und Gedichten hat der Vielschreiber ein rundes Dutzend Stücke veröffentlicht, die seit 1993 immer häufiger gespielt werden.

Von der Inselglorie bis zum Mauerfall

Wildenhain, Jahrgang 1958 und Berliner (West), schreibt aus der Perspektive jener Generation, die ihren politischen Frühling in der Hausbesetzerbewegung Anfang der achtziger Jahre hatte und deren politischer Herbst mit dem Niedergang der Kreuzberger Autonomenszene begann. Bis der Mauerfall dem revolutionären Stadtrandidyll endgültig den Garaus machte. Wildenhains Themen kommen aus dieser (auch seiner persönlichen) Geschichte. Aber der Bewegungspoet heult nicht vergangener Inselglorie hinterher. Ganz im Gegenteil. Aus der Position des einstigen Mitmachers hinterfragt er den linken Wahrheitsbesitz und bleibt dabei nicht bei dem Datum stehen, an dem alles ganz anders wurde. Sein erstes Stück („Denn es ist die Maschine...“, 1987) ist noch eine wilde Hymne auf die Sumpfecken der Mauerstadt, sprachlich ausladend, zwischen Chorsequenzen, Szeneslang und hochpoetischen Monologen. Schon hier klingen die Motive an, die Wildenhain beschäftigen: der Gegensatz zwischen politischem Anspruch und dessen Lebbarkeit, der zum Selbstweck gewordene autonome Aktionismus und die allgegenwärtige Gewalt.

Ritualisierte Gewaltstrategien, sowohl von rechts als auch von links, analysiert Wildenhain auch in einer neueren Trilogie. In „Im Schlagschatten des Mondes“, das letztes Jahr im BE gespielt wurde, geht er in endlosen Monologen möglichen Reaktionsmustern bei der Konfrontation mit Ausländer verprügelnden Skins nach. Bei „Ins Offene“, das vor einer Woche im Theater am Halleschen Ufer uraufgeführt wurde, schlägt er – nicht nur stilistisch – den gegenteiligen Weg ein. Den Häuserkampf in der Mainzer Straße 1990, der in einer brutalen Räumungsschlacht gipfelte, nimmt Wildenhain hier zum Hintergrund für modellhafte Konfrontationen. Die randalegeilen Autonomen (West), personifiziert von „Er“ (Jens Clamor) und dem „Freund“ (Erkan Altun), treffen auf den völlig anderen Erfahrungshintergrund der Besetzer im Osten („Sie“: Inga Dietrich).

Die „Avantgarde“ im Westen und im Osten

Eher ein deutsch-deutsches Begegnungsdrama als die Nachzeichnung von Historie: Wildenhain benützt den realen Vorfall, um Denk- und Handlungsstrukturen gegeneinanderzustellen. Als Gegenpol zu der selbsternannten politischen Avantgarde im Westen und Osten siedelt er bloße Nummern an: Eins, Zwei, Drei (Timo Semik, Robert Hummel, Julia Luise Wegehaupt), die nach einem deutschen Deutschland schreien und alles Fremde zusammenschlagen. Privates und öffentliches Handeln mischt Wildenhain dabei geschickt, indem er den Versuch einer west-östlichen Liebesgeschichte andeutet.

So modellhaft wie die Konstellation ist auch die Sprache. Wildenhain kondensiert den Dialog zu extremen Kürzeln. Die Dinge werden nicht im Text angesprochen, sondern dazwischen. „Was macht der LKW?“ fragt Er auf der Demo. „Brennt“, antwortet Sie. Er: „Klasse!“ Sie: „Was ist daran Klasse?“ Er: „Daß er angezündet ist.“ Stärker kann man unterschiedliche politische Sichtweisen nicht eindampfen.

Solche Minimalisierungsverfahren lassen im Theater viele Umsetzungsmöglichkeiten zu. Man kann die Leerstellen bebildern oder die Figuren mit einem breiten Handlungskontext unterfüttern. Regisseur Hans-Werner Kroesinger macht keines von beiden. Er spielt auf dem minimalistischen Text wohltemperiertes Klavier. Den aufs äußerste beschränkten Wörtern begegnet er mit aufs äußerste beschränkten Gesten. Kroesinger installiert ein Sprachlabor. Auf der leeren Bühne stehen nur ein (meist leeres) Podest sowie eine Videokamera, eine Leinwand, ein Monitor. Dazwischen bewegen sich Typen, bar jeder Individualität. JeansträgerInnen sind alle, egal welcher Couleur, die sich kaum anschauen, fast nie berühren. Ein kleiner ironischer Bruch im Kostüm nur bei der Figur des Er: Der aufrechte Autonome sieht in seinem Schlabbersakko aus wie ein progressiver Studienreferendar. Ansonsten stehen in den meisten Momenten nur SprecherInnen in der Leere; die Lakonie ihrer Sätze ist austauschbar. Kenntlich werden sie höchstens in kleinen Unterschieden ihrer streng choreographierten Bewegungen. Aber auch da liegen die Gegensätze weniger zwischen links und rechts als zwischen Ost und West. Wenn am Anfang die Fernsehfotos von der Maueröffnung im Schnelldurchlauf über den Monitor gerast sind, springen die Ossis jubelnd hoch, während die Wessis in der Bewegung gefrieren.

Lachsacklachen und Schlagwort-Utopien

Kroesinger inszeniert ein Lehrstück ohne Lehre. Da verstellt kein Bild den analytischen Blick auf die skeptische Untersuchung einer Bewegung, die den neuen Herausforderungen nur mit den alten Hamsterrad-Strategien begegnen kann: Gewalt und Gegengewalt. Da reagiert der kühle Kopf in bis ins Detail synchronisierte Bewegungen. Emotionen sind nicht gefragt. Bisweilen funktioniert die maschinisierte Epik. Wenn die politischen Neuerer am Schluß mit einem Senator verhandeln, der auf ihre wirre Mischung aus Forderungen und Schlagwort-Utopien wie ein Lachsack reagiert, werden die Machtkonstellationen deutlich. Als hilfloser Endpunkt wird der Senator erschossen. Sein Kopf bleibt wie eine Ikone sinnloser Gewalt nach oben gereckt.

Kroesinger will auf keinen Fall moralisieren. Deshalb sucht er auch nicht die Menschen unter den Texten und Aktionen. Ein zwiespältiges Unterfangen, das im Endeffekt die Unsicherheit des Nicht- interpreten überkleistert. Das Modell bleibt Behauptung. Den Leerstellen im Text mit Leerzeichen auf der Bühne zu begegnen läßt den Diskurs über politische Handlungsformen in eine achselzuckende Leere laufen. Und obwohl Wildenhain die linken Strategien radikal in Frage stellt, einen Diskussionsanstoß im Zeichen der Hilflosigkeit will er allemal geben.

„Ins Offene“ von Michael Wildenhain. Regie: Hans-Werner Kroesinger. Täglich bis Sonntag, 20 Uhr, Theater am Halleschen Ufer (32), Kreuzberg