Zarte Medizin im Kreuzfeuer

In den Niederlanden therapieren sich Multiple-Sklerose-Patienten erfolgreich mit Marihuana. Justiz und Schulmedizin reagieren noch skeptisch  ■ Von Remco in't Hof

Die heilsame Wirkung von Marihuana ist zwar schon seit Jahrhunderten bekannt, doch von der modernen Schulmedizin wird das Kraut als Droge verteufelt. In Holland meldet sich die Wissenschaft jetzt zögernd an der Marihuana- Front: So hat der holländische Multiple-Sklerose-Verein seine Mitarbeit an einer internationalen Untersuchung über die medizinischen Eigenschaften von Hanf bekanntgegeben. In dem Rotterdamer Krankenhaus Dijkzicht wird auf experimenteller Basis mit Marihuana (als Teegetränk) geforscht – bei Patienten, die unter den Nebenwirkungen ihrer Chemotherapie leiden.

Vor allem Patienten, die an der Lähmungskrankheit MS leiden, scheinen wirklich Linderung zu spüren, wenn sie einen Joint rauchen. Doch bei Ärzten stoßen sie häufig auf Skepsis. Bei dem MS- Patienten Johan aus Groningen hat sich das Leben verändert, seit er angefangen hat Marihuana zu rauchen: „Es gibt mir wieder Energie, meine Lebensqualität hat sich unglaublich verbessert.“ Durch seine Krankheit ist Johan mehrfach gelähmt. Seit er im Fernsehen einen Dokumentarfilm über die medizinische Wirkung von Marihuana sah, raucht er täglich mehrmals einen Joint – in Übereinstimmung mit seinem Arzt. „Zuerst habe ich nur an den Wochenenden geraucht.“ Kurz danach fing er an, jeden Tag zu rauchen: „Alle zwei, drei Stunden nehme ich ungefähr drei Züge eines Joints. So halte ich am besten ein konstantes Niveau. Bevor ich Marihuana zu mir nahm, hatte ich immer kalte Beine. Jetzt habe ich das warme Gefühl wieder zurückbekommen. Ich schlafe auch besser, weil ich nicht mehr alle zwei Stunden aufstehen muß, um pinkeln zu gehen. Fünf Stunden kann ich jetzt ganz normal durchschlafen.“ Auch tagsüber fühle er sich fitter als früher. Außerdem kann er Streß, der die MS- Symptome verstärkt, durch den Marihuanakonsum abbauen.

Johans Arzt reagierte begeistert auf die positive Marihuana-Erfahrung. Er weiß keine Alternative für Johan, als aus dem Coffee-Shop seine Portion zu beziehen. „Vor kurzem war ich bei meinem Apotheker. Dem erzählte ich über meine Erfahrungen mit Marihuana. ,Oh, Sie benutzen Drogen?‘ war dessen Antwort. Da mußte ich lachen und sagte: ,Sie verkaufen hier doch nur Drogen!‘“

Die Vorsitzende des holländischen MS-Vereins, E. H. Reitsma, sagt: „Ich kenne mehrere MS-Patienten, auf die Marihuana eine heilsame Wirkung hat. Deshalb arbeiten wir gemeinsam mit der Universität von Jerusalem an einer internationalen Untersuchung.“ Der Verein möchte beweisen, daß Marihuana als Medizin für MS-Patienten nützlich ist. Das Problem: Hinter den Cannabisprodukten stehe keine pharmazeutische Industrie, also kein Geld für Experimente und Untersuchungen, so Reitsma.

Da Marihuana auch in Holland offiziell immer noch verboten ist, ist Johan auf die vielen – bis jetzt noch tolerierten – Coffeeshops in Groningen angewiesen. „Meistens frage ich Bekannte, ob die für mich in so einen Shop gehen wollen, denn ich bin gehbehindert und sitze im Rollstuhl.“ Weil er den Rauch warm nicht gut inhalieren kann, benutzt Johan eine Wasserpfeife. Damit kühlt der Rauch ab, das Marihuana ist leichter zu inhalieren. Weiter sagt er: „Ich könnte keinen einzigen nachteiligen Effekt nennen. Ich glaube auch nicht, daß ich süchtig werde. Marihuana sollte für jeden MS-Patienten freigegeben werden. Wissenschaftliche Untersuchungen finde ich nicht nötig. Ich habe alle Beweise in den Händen: Seht mich an!“

Jeannet Horst arbeitet bei einer MS-Beratungsstelle. Sie wird in letzter Zeit regelmäßig gefragt, ob Marihuana gut oder schlecht sei: „Marihuana hat einen lindernden Einfluß auf die Streckmuskeln des Menschen. Wenn ein Patient morgens aufwacht, ist der meistens steif, da kann ein Joint helfen. Ich kenne MS-Patienten, bei denen ein Joint die Schmerzen lindert, würde aber nie sagen: Raucht ruhig, bis ihr nicht mehr könnt!“ Sie werde Marihuana nur in geringer Dosierung empfehlen, zum Beispiel bevor man schlafen gehe. „Ich möchte nicht, daß jemand auf einen Trip geht.“

Herr Zwanikken, Neurologe im Akademischen Krankenhaus in Groningen, hat fast täglich Kontakt mit MS-Patienten. Er kenne keine wasserdichten Untersuchungen, in denen Marihuana als Medizin positiv bewertet werde. „Es könnte gut sein, das Marihuana eine heilsame Wirkung auf Spasmen von MS-Patienten hat und den Blasendruck des Patienten verringert. Aber für mich ist dies kein Grund, jetzt Cannabis zu verschreiben. Die Spannung zwischen der möglichen heilsamen Wirkung und der Illegalität erzeugt die Gefahr, mit der Justiz in Konflikt zu geraten.“

Der Autor wohnt und arbeitet in Groningen, Holland. Als Journalist und Buchautor publiziert er seit Jahren in nationalen und internationalen Medien über Hanf und Hanf-Produkte.