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A20 zwischen Rot und Grün

Verkehrswende im Norden? Heute beginnen die Koalitionsverhandlungen in Schleswig-Holstein. Hauptstreitpunkt ist die Ostsee-Autobahn  ■ Von Florian Marten

Führt der Weg zu blühenden Landschaften zwischen Wolgast, Lübeck und Glückstadt über den vierspurigen Beton der Küstenautobahn A20? Oder gibt es billigere, bessere und modernere Alternativen, die, gerade weil sie ökologische Vorteile besitzen, auch der Wirtschaft weit besser nützen? Bei den rot-grünen Koalitionsverhandlungen in Schleswig-Holstein prallen ab heute zwei Verkehrs- und Wirtschaftskonzepte aufeinander, wie sie kaum gegensätzlicher sein könnten.

Dabei stützt sich das Nein der Grünen keineswegs nur auf die Interessen einer gutsituierten BI- Klientel bei Lübeck, die dort im Verein mit den Umweltverbänden lautstark gegen das Lübecker A20-Teilstück mosert. Auch der Lübecker Kaufmann Max Schön sieht im Straßenbau eine Fortschrittsbremse: „Unser Handelshaus mit seinen Niederlassungen in Lübeck, Wismar, Rostock, Szczecin, Gdynia, Riga und Tallinn sollte eigentlich zu den Profiteuren eines Autobahnbaus entlang der Ostsee gehören.“ Aber: „Auf welchen Verkehrswegen soll Osteuropa Verkehrsaustausch mit Westeuropa betreiben, wenn wir nur Straßen anbieten?“

Schön fordert eine „verkehrspolitische Weichenstellung, für die Schleswig-Holstein eine schwere Verantwortung trägt.“ Er denkt dabei an die „Vernetzung verschiedener Verkehrsträger“, ein Verbundsystem von Küstenschiff, Bahn und Öko-Lkw: „Dazu gehören neue Software, neue Berufsbilder, neue Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen. Hier ist eine internationale Marktführerschaft noch denkbar.“ Der SPD sind solche Argumente vollkommen egal. „Kein Grüner hat die SPD zu belehren, wie man ökologische Modernisierung buchstabiert.“ Mit solch kernigen Worten stellte die frischgekürte Kieler SPD-Fraktionsvorsitzende Ute Erdsiek-Rave klar, wer hier das letzte Wort behalten will. Der Ärger über die Grünen sitzt tief bei den Nord-Sozis, die sich für die ökologische Speerspitze der bundesdeutschen Sozialdemokratie halten. Schwierigster Konfliktpunkt, da sind sich die KontrahentInnen einig, wird der Streit um die Küstenautobahn A20, ein Betonwurm, der sich von der polnischen Grenze über Lübeck, westlich an Hamburg vorbei eines Tages sogar über die Elbe wälzen soll.

Unternehmer, Parteien und ein Großteil der Bevölkerung steht fest hinter dem Projekt, das Ex- Bundesverkehrsminister Günther Krause (Raststättenaffäre) einst einfädelte. Teilstücke der A20 bei Wismar sind bereits im Bau, das Projekt genießt im Bundesverkehrswegeplan (BVWP) allerhöchste Priorität. Und: Schleswig- Holstein kann das Bundesprojekt allein kaum stoppen, zumal die Strecke größtenteils durchs benachbarte Mecklenburg-Vorpommern führen soll.

Die Grünen wollen den Baubeginn deshalb mit weiteren Gutachten verzögern, bis 1998 vielleicht eine rot-grüne Bundesregierung in Bonn zur Vernunft kommt. Derweil gilt freilich im dünnbesiedelten Mecklenburg-Vorpommern der Küstenbeton als wichtigste Heilsversprechung, das grüne Nein zur A20 erscheint als fundamentalistischer Anschlag auf Wirtschaft und Automobilismus.

Vorerst prägt noch mobile Idylle den Verkehr zwischen Stralsund und Lübeck: Mittwoch morgen, 10.13 Uhr – mit nur vier Minuten Verspätung – schiebt sich der Interregio 2231 durch den Stralsunder Vormittagsverkehr. Stunden dauert die Fahrt: eine kleine Ewigkeit für eine Entfernung von nicht einmal 200 Kilometern. Schon zu Kaisers Zeiten ging es kaum langsamer.

Heute verstopft nur der Ortsverkehr die Straßen

Aber auch die Straße ist keine Alternative: Egal ob getunter Golf oder Volvo-40-Tonner – auf den 192 Kilometern der Bundesstraße 105 mit ihren Alleeteilstücken und beschaulichen Ortsdurchfahrten ist die Wettfahrt gegen den Interregio fast nie zu gewinnen, obwohl die Ostseeküstenroute mit meist nur 12.000 Fahrzeugen pro Tag eine niedrige Belastung aufweist.

Schuld an den dafür verantwortlichen lokalen Staus sind keineswegs, sagt der Verkehrswissenschaftler Arnulf Marquardt-Kuron, die Lkw-Flotten auf dem Marsch nach Osten oder urlaubshungrige Touristen, sondern lokaler Pendlerverkehr: „Die Verkehrsprobleme sind zum größten Teil hausgemacht und nicht durch Fernverkehre verursacht. Die A20 wird keine Entlastung der Gemeinden von ihren Verkehrsproblemen bringen.“

Seehäfen brauchen mehr Schiffe, nicht mehr Autos

Völlig staufrei dagegen die Ostsee und die Häfen Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund und Greifswald. Nur wenige Güter finden bislang den Weg per Küstenschiff. Hochwertige Güter auf diesen vergleichsweise kurzen Strecken – sie vor allem brächten Gewinn und Rendite – meiden bislang notorisch den Wasserweg. Und von modernen Küstenschnellfähren, die Touristen und Pendler auf der Ostsee hin- und her katapultieren könnten, ist weit und breit nichts zu sehen. „Der Wettlauf um die Verkehrszukunft Mecklenburg-Vorpommerns beginnt auf einem bescheidenen Niveau. Nur wenige Güter bewegen sich entlang der Küste, die meisten kommen von Süden, per Lkw aus Berlin. Und der Personenverkehr ist, der geringen Bevölkerungszahl entsprechend, noch ausgesprochen bescheiden.

Für eine Autobahn, für die nach deutschen Planungsrichtlinien ein Verkehrsaufkommen von mindestens 25.000 Fahrzeugen täglich erforderlich ist, fehlt damit schlicht der Bedarf. Das räumen die A20- Befürworter unumwunden ein. Der Verkehr, so ihre Prognose, wird kommen, wenn die Autobahn da ist.

Das aber ist ein Hauptargument der Gegner: Wer Straßen sät, erntet Verkehr. Statt der Lkw-Karawanen mit norddeutscher High- Tech, die sich in der Vision der A20-Fans ostwärts wälzen, sehen sie allerdings etwas anderes voraus: Das Ende von Küstenschifffahrt und des Schienengüterverkehrs, bevor deren Zukunft begonnen hat. Und einen Autorausch, der all denen die Verkehrsfreiheit raubt, die sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewegen wollen.

Selbst von den Exportströmen Richtung Osten kann keine Rede sein: Eine Verlängerung der A 20 nach Polen wird es auf Jahrzehnte hinaus nicht geben. Der Ausbau des „Korridors Berlin–Warschau–Moskau“ hat absoluten Vorrang.

Eine nüchterne Bestandsaufnahme läßt deshalb nicht nur grüne Fundis am Sinn der A20 zweifeln: Während auf Schiene und Wasser noch enorme Kapazitätsreserven schlummern, die mit geringem Aufwand und schnell zunutzen wären, bringt die A20 mehr Gefahren als Nutzen.

Beispiel Lübeck: Die A20 werde, so mahnen Verkehrsexperten, Altstadt und Zentrum mit neuen Pendlerlawinen geradezu überschütten. Für einen Bruchteil der Autobahnkosten könnte Lübeck seine Pendler mit einer Stadtbahn beglücken – das Grundnetz wäre bereits für 500 Millionen Mark zu haben. Warum, so fragt Marquardt-Kuron, werden die Schienenstrecken nicht schneller und gründlicher modernisiert? Eine Kombination von Schienenausbau, einer behutsamen Modernisierung der B 105 (einige Ortsumgehungen inklusive) und der Ausbau eines flächendeckenden ÖPNV-Netzes Richtung Schiene nach holländischem Vorbild brächte zu einem Bruchteil der A20-Kosten auf ein Vielfaches an Mobilitäsgewinn.

Und der Güterverkehr? Neben der Schiene (zum Beispiel Huckepack nach Saßnitz) liegt hier die Zukunft auf dem Wasser, wie selbst die IG Metall seit Jahren anmahnt: Ein neuer Typus von „Short-sea“-Verkehren mit schnellen Küstenschiffen, eingebunden in satellitenüberwachte Logistikketten – in Machbarkeitsstudien von Planern und Experten längst ausgereift, könnte einen echten Wirtschaftsaufschwung an der Ostsee bewirken, Arbeitsplätze in Werften, Häfen und regionalen Industrien schaffen. Der Lübecker Kaufmann Max Schön fragt die SPD provokativ: „Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir? Wo, wenn nicht hier?“

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