Erst der Seitenairbag, jetzt der Chip für den Kopf

■ Bremer Mikroelektronik-Forscher bauen den Hirndruckmesser „ITES“

Es geschah vor drei Jahren: Eine Delegation Bremer Mikroelektroniker traf auf eine Handvoll Bochumer Mediziner. Man setzte sich in der Uni-Klinik Bochum an einen Tisch, die Mikroelektroniker sprachen von ihren Errungenschaften in der Automobiltechnik, von Mikrochips für Seitenairbags und ABS-Systeme. „Das war mehr so eine Verlegenheitslösung“, erinnert sich der Bremer Physiker Josef Binder. „Ich hab anfangs einfach gedacht, die werfen uns raus.“ Denn eigentlich waren die Mikroelektroniker nach Bochum gefahren, um dort über Medizin zu reden. Genauer:über den medizinischen Einsatz von Mikrochips. Aus dem Verlegenheits-Small-Talk wurde „ein gutes brain-storming“.

Und aus diesem wiederum entstand inzwischen ein hochsensibles Stückchen Eletronik von der Größe eines Q-Tips, das irgendwann ins menschliche Gehirn implantiert werden soll: Auf der einen Seite sitzt ein Drucksensorchip aus Silikon, etwa zwei mal zwei mal zwei Millimeter groß. Eine leitfähige Faser verbindet diesen mit einem Telemetrieteil aus Gold (fünf mal fünf mal zwei mm). Man könnte auch sagen, dieser „Q-Tip“ sieht aus wie ein Katheter, und genau diesen soll er auch ersetzen.

Katheter werden (auch) zur arteriellen Blutdruckmessung verwandt, doch ein elektronischer Mikrochip arbeitet natürlich selbstredend viel genauer. Die Gefahr von Thrombosen oder durch den Katheter ausgelöste Infektionen schließt er gar aus. Eingesetzt wird der „Q-Tip“ oder „telemetrische Drucksensor“ ebenso wie ein Katheter in eine Unterarmarterie. Der Drucksensor empfängt dann den Druck im Blut, das Telemetrieteilchen sendet ihn per Wellen nach außen. Dort sitzt dann ein Außengerät, das einerseits Wellenempfänger, andererseits auch Energieversorger ist. Man rechnet in Medizinerkreisen mit hoher Akzeptanz bei der Anwendung des „Katheternovums“ auf der Intensivstation.

Inwieweit dieses Mikrochipsystem – das auch „Implantierbares telemetrisches Endosystem“ heißt, oder kurz ITES – auch menschenverträglich ist, ist noch überhaupt nicht klar. Doch Bremens Elektrotechniker und Bochums Mediziner haben mittlerweile dem neuen Projekt ein noch viel ehrgeizigeres Ziel implantiert: Sie wollen auch den Hirndruck per Chip messen. ITES soll in den menschlichen Schädel. Das hat nicht nur das Bundesforschungsministerium aufhorchen lassen: fünf industrielle Partner (allen voran Siemens) und vier Forschungspartner wollen inzwischen von ITES' Ruhm ein Scheibchen abhaben und teilen sich die 15 Millionen Gesamtetat, die der Bund finanziert. Drei Jahre wurden veranschlagt, im Januar '95 ging es los.

„Mit der Hardware sind wir nun soweit“, zieht Bremens Physiker Josef Binder die aktuelle Zwischenbilanz. „Physiker“ ist jedoch eigentlich eine zu vordergründige Bezeichnung für den Wissenschaftler. Josef Binder ist Prof. Dr. rer. nat. und einer der beiden Leiter von ISMAS, dem „Institut für Mikrosensoren, -aktuatoren und -systeme“ an der Bremer Uni. Dem ISMAS respektive dem Mikrosystemtechniker Josef Binder obliegt die Oberaufsicht über ITES und die technische Koordination. Entsprechend mikroelektronisch gefärbt sind zuweilen auch seine Aussagen: „Die Chips können jetzt charakterisiert werden“, sagt er. Doch Binder kann auch allgemeinverständliche Erklärungen liefern: Die Chips müssen noch ein bißchen technisch ausgefeilt werden, ehe sie dann Mitte '97 an Schafen getestet werden sollen. Ein ITES entwickeln, bedeute nämlich in erster Linie: Auflagen einhalten.

Die gab es einerseits von den Medizinern. Klein soll ITES sein, war die erste Vorgabe. „Doch je kleiner er wird, umso schwieriger wird es mit der genauen Messung“, sagt Binder, der Techniker. Ihm ging das dicke Pflichtenheft der Ärzte manchmal fast zu sehr ins Banale. Aber er fügte sich; schließlich seien die Bochumer die „keyplayer“ im Projekt. „Und Ärzte haben natürlich immer ein bißchen Skepsis im Gepäck“, so Wissenschaftler Binder leicht salopp. Dann wird er schwer bedenklich. „Auch ich muß aber auf die Bio-Kompatibilität von ITES pochen. Es darf nicht zu Entzündungen kommen, wir befinden uns im Gehirn.“ Alle Bauteile müßten „gecoatet“, also sicher ummantelt werden – entsprechende Elastomere wurden von einem Institut in Rostock entwickelt.

Die nächste Einwand der Mediziner lautete: Ein Mensch darf nicht mit beliebig viel Energie beladen werden, nur damit der implantierte Chip arbeiten kann. Auch dem stellten sich die Elektrotechniker, und auch auf den TÜV sind sie schon vorbereitet. Das implantierte Telemetrieteil und das externe Gerät tauschen ihre Impulse über Wellen aus. Jedes Frequenzgerät ist jedoch Störungen ausgesetzt, deshalb muß der TÜV die Geräte freigeben. Doch Binder ist gelassen: „Wir sind so niederenergetisch... Und das externe Monitoring-System, das die Daten empfängt und darstellt, wird zwar in Kopfhörerform sein, aber mit ein paar Zentimeter Abstand vom Kopf.“

Josef Binder beweist außerdem: Auch Mikroelektroniker sind nicht frei von Moral oder Emotion. Man müsse mit ITES maßvoll arbeiten. Wer wolle schon ein technisches Gerät im Leib. Er zum Beispiel nicht. Also müsse darauf geachtet werden, ITES wirklich nur bei Traumata, Hinrtumoren, bei Unfallopfern und PatientInnen mit schwersten Brandverletzungen einzusetzen, und auch nur dann, wenn das Krankheitsstadium so fortgeschritten sei, daß es keine Alternativen mehr gebe, daß ein Katheter nicht mehr einsetzbar sei. „Niemand soll das Implantat einfach so reinhauen“, so der Wissenschaftler allgemeinverständlich.

Über die geplanten Tierversuche wird sowieso eine Ethik-Kommission wachen. Wenn dann ein ITES-Prototyp fürs Schafshirn vorliegt, ist für die Mikroelektroniker der Bremer Uni das Projekt so gut wie zu Ende. Projektchef Josef Binder meint, es könnte anschließend noch ein „ITES zwei“ geben, sieht aber vor 2005 noch keinen Chip unter der Schädeldecke eines Menschen sitzen. Einstweilen hat der Mikrosensoriker schon eine andere Chipvision, die Heilbeschleunigung von Knochenfraktionen. In Kurzzusammenfassung: Ein vibrierender Fixateur außen am Knie stimuliert das Knochenwachstum, bekommt von innen die Meldung: ich wachse – und gleicht seine Frequenz an. Ende '96 soll der Knochenbruch-Chip-Etat geklärt sein.

Mit dem Ausflug in die Medizin hat sich das Bremer Institut für Mikrosysteme aus dem herkömmlichen Mikro-Broterwerb der Auto- und Verkehrstechnik herausgewagt. 1992 wurde das ISMAS in Bremen gegründet, mit Hilfe von 40 Millionen Investition vom Bund und dem Land Bremen. Rund 60 MitarbeiterInnen hat das Institut. Das hauseigene Technologiezentrum bietet beste technische Möglichkeiten. Josef Binder und sein Kollege Wolfgang Benecke wollen in Bremen einen Sonderforschungsbereich Materialwissenschaften aufbauen und darin Physiker, Chemiker, Biologen und Elektrotechniker zusammenbringen.

„Bremen braucht so was – das meine ich nicht zynisch, sondern so, wie ich es meine“, sagt Binder dazu in seiner versteckt bajuwarischen Art. Er kommt aus München, war lange Zeit technischer Leiter im Sensorwerk einer Siemens-Dependance in Toulouse, ehe er nach Bremen berufen wurde. „Wir müssen uns hier überlegen, wo in unserer Gesellschaft 'Mikro' relevant ist.“ Die Bild-Zeitung hatte Josef Binder einen Erfinder genannt. „Wenn Sie das schreiben, bin ich beleidigt“, sagt er. Silvia Plahl