Bücher, Baustelle etc.
: Zärtliche Bagger

■ Playmobil-Land am Potsdamer Platz: Kindheitsträume werden wahr

Bibliotheken sind Orte erhöhter geistiger Bereitschaft, Orte der Kontemplation, der Meditation. Ganz besonders deutsche Staatsbibliotheken, und die hauptstädtische Staatsbibliothek am Potsdamer Platz ist darin kaum zu übertreffen. Zur Zeit sowieso nicht.

Zugegeben, Jünglinge wie hier, in statu habilitandi, gab es schon immer und überall. Auf stoßgedämpften Veloursteppichböden wandeln sie selbstversunken ihrer Bestimmung entgegen. Auch die Auszubildenden der Medizin und Jurisprudenz kolorieren wie eh und je mit sorgsam gezogenen Linien die einschlägigen Lehrbücher.

Eine kostenlose Geduldsübung für Anfänger hingegen gibt es nur in Berlin, ein Exerzitium, dessen Nervenbalsam auch Eingeweihte zu schätzen wissen. Auf Pappschildern beim Alten Alphabetischen Katalog ist zu lesen: „Bitte immer auch im Neuen Alphabetischen Katalog nachsehen“. Gerne folgt man dieser Bitte – immer. Schließlich ist der Weg das Ziel.

Doch das erkenntnisfördernde Abschweifen der Gedanken gedeiht in diesen Wochen am besten im Erfrischungsraum. Die Epiphanien, die hier möglich sind, dürften schon bald in einem nationalen wissenschaftlichen Vorsprung deutlich sichtbar werden. Früher war diese Örtlichkeit als Platz vulgärer Genußsucht verschrien, so wie in allen anderen Bibliotheken der Welt. Jetzt gibt es Leute, die an der Fensterseite dieses Raums in Trance fallen, gebannt dort sitzen, stundenlang.

Tatsächlich, der Blick nach draußen ist ein Blick in eine andere Welt. Man muß in den Bemühungen der Landschaftsgestalter und Stadtplaner nicht unbedingt den Versuch sehen, dem lesenden Publikum das Bauen und Bohren, das Graben und Schaufeln als Symbol für Denken und Dichten vorzuführen. Nein, hier werden einfach Kindheitsträume erfüllt. Sandkastenspiele, Backe-backe-Kuchen, Burgen und Brücken – die erinnerten Bilder und Szenen reißen nicht ab. In der Kaffeetasse rührend, das Gekicher der beschlipsten Staatsexamenskandidaten und geschmückten -kandidatinnen im Rücken, vom Summen der Kühlautomaten und Geklingel der Mikrowelle betäubt, sehen wir einen Tatort von Landschaft, wie er phantasievoller nicht sein könnte. Playmobil-Land ohne Grenzen.

Bagger und Lastwagen, Kräne und Raupen bewegen sich lautlos an den Ufern eines malerisch gelegenen Sees. Ein klappriger Steg führt über den dunkelgrün schimmernden Weiher. Sphärenmusik? Behelmte in Arbeitskleidung dirigieren graziös das Ensemble der Kranführer. Unsichtbar fürs bloße Auge befehligen diese schwindelfreien Helden hoch oben in den Kanzeln die schwerelose Last. Ein blaues Band schwebt durch die Lüfte. Und was wir einst im Sandkasten ahnten, hier sehen wir es vor uns: Sogar ein Bagger kann zärtlich sein. Sanft streicht er mit seiner Schaufel die Erde auf dem Kipper glatt. Ein Marlboro-Mann raucht im Führerhaus, die Ärmel hochgekrempelt, der Ellbogen lehnt entspannt am Fenster.

Einige Betonklötze stören noch etwas die Gesamtkunststelle, aber wir lesen ja Zeitung und wissen: Jeder neue Tag bringt sie einer ästhetisch vollendeten Form näher. Ihr Grau kontrastiert heute schon aufs beste mit den bunten Zutaten der Bildkomposition. Ein erfahrener Arrangeur muß hier am Werk gewesen sein. Auf fragilen Gestellen stehen sonnenblumengelbe Behältnisse, sie haben die Aufschrift „Trockenmörtel“. Allein der Klang des Wortes verheißt Nirwana. Blau ist die Farbe der Containerklos, die in regelmäßigen Abständen über das Gelände verteilt sind. Das bordeauxrote Fahrzeug mit der blankpolierten Hydraulikstange parkt am See. Es paßt dazu. Doch unsere Lieblinge sind die Lastwagen der „Baustoffwerke Klösters“. Zebras könnte man sie nennen, ihre schwarzweiß gestreifte Betonmischtrommel dreht sich beim Leeren bis ganz zuletzt.

Auch tagsüber wird die Szenerie von Scheinwerfern beleuchtet. Die Arbeitsschichten wechseln in geheimnisvollem Rhythmus. Eine Gruppe Plastiktaschen schwenkender Männer marschiert Richtung Feierabendcontainer. Die Ablösung kommt ihnen heiter grüßend entgegen. Das Seeufer in der Dämmerung erwartet sie. Verweile, Augenblick, du bist so schön. Stephan Schurr