Teil eines großen Geredes

Vorsicht Fama! Attendite Fama! Im Berliner Centre Marc Bloch fand eine Tagung zur „Politik des Gerüchts“ statt: Wem nützt „Zersetzung“?  ■ Von Daniel Haufler

Gerüchte sind eine schöne Sache. Sie kursieren und verbreiten sich in Windeseile, sie tauchen plötzlich auf und verschwinden ebenso schnell: Lady Di erpreßt Prince Charles, oder Gummibären sind aus Rinderknochen und unsere Kinder bald verrückt – heute gedruckt, morgen verkauft und tags drauf dementiert. So verdient ein Teil der Presse sein Geld. Die Leser amüsieren sich oder leiden mit. Und außerdem: Jeder kennt Gerüchte, jeder erzählt sie weiter, ob er daran glaubt oder nicht. Je unübersichtlicher die Lage, je unglaubwürdiger die offiziellen Nachrichten, desto bereitwilliger glauben wir an Gerüchte.

„Noch in den fabelhaftesten Tatsachen versuchen wir die wirklichen Tatsachen aufzuspüren“, schrieb schon 1871 der französische Historiker Gabriel Monod in seinem schmalen Band „Allemands et Français“, das er den unglaublichen und doch geglaubten Erzählungen der Soldaten im preußisch-französischen Krieg widmete. Fast fünfzig Jahre später inspirierten „Les Fausses nouvelles de guerre“ Marc Bloch zu seinem Aufsatz, der erstmals falsche Fakten zur Quelle erhob: In den Gräben nämlich glaubten und verbreiteten Soldaten die abwegigsten Gerüchte, weil sie schlecht oder nur nach scharfer Zensur informiert wurden, keine normalen Journale und Bücher lesen durften. So kam es, schreibt Bloch, „zu der wundersamen Wiederkehr der mündlichen Überlieferung, der antiken Mutter der Legenden und Mythen“. Seitdem erforschen Historiker der „Annales“, aber auch Soziologen, Psychologen und Politologen, vor allem in den USA und Frankreich, das Medium Gerücht.

Einen aktuellen Überblick über deren heterogene Forschungsbemühungen bot am vergangenen Freitag die Tagung über „Die Politik des Gerüchts“ im Berliner Centre Marc Bloch. Die zentrale Frage war: Können Regierungen Gerüchte in ihrem Sinne nutzen oder sich dagegen wehren? Der Germanist Hans-Joachim Neubauer (MSH, Paris) schilderte in seinem etwas blumig-mystisch geratenen Vortrag die Arbeit der „Rumor clinics“, die Amerikas Politiker im Zweiten Weltkrieg einrichteten, nachdem die japanische Luftwaffe Ende 1945 beinah die gesamte US- Pazifikflotte bei Pearl Harbour vernichtet hatte. Schon im Sommer 1942 zählten Psychologen über tausend „kriegsrelevante Gerüchte“, zwei Drittel davon gegen die Alliierten gerichtet oder gegen Minderheiten, also Schwarze, Juden, Briten, Army und Navy. Dagegen setzte man zunächst auf Schweigen (Pst, Feind hört mit!) oder nette Propagandasprüche wie: „Zip your lip, save a ship.“

Doch bald merkte man: Schweigen bekämpfte nicht nur Gerüchte, es förderte sie auch. Dies war der Moment für die „Rumor clinics“: Psychologen ließen Gerüchte von Freiwilligen (wie Kneipenwirten) sammeln, sortierten dann die gesammelten Geschichten, leiteten einen Teil weiter, um deren Gehalt zu prüfen, und warfen den größeren Teil weg – besonders „wenn das Gerücht ebenso wahr wie gefährlich“ war. Um verbreitete und leicht widerlegbare Gerüchte zu beseitigen, veröffentlichten die „Rumor doctors“ alle kursierenden Varianten in distanzierter graphischer wie sprachlicher Form: „Rumor: Some minority group (Negro), (Jew), (Catholic) or other is not loyal to America. Rumor“. Diese Methode sollte jedem zeigen: Selbst ein belangloses Gerücht, das man irgendwo hört, ist Teil eines großen Geredes – und kann nur ein Ziel haben: Amerika zu schwächen. Also aufgepaßt!

Gezielt manipulieren

Umgekehrt war es in der DDR: Hier wollte der Staat keine Gerüchte abwehren, sondern gezielt seine Bürger manipulieren, wie Bernd Eisenfeld (Gauck-Behörde) eindrücklich berichtete: Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) setzte dabei auf die kriegsbewährten Methoden von Desinformation und Gerücht; es scheint, als ob die Stasi die amerikanischen Erfahrungen genau studiert hätte. Um den Westen zu desinformieren, richtete das MfS schon 1957 eine „Organisationseinheit Westarbeit“ ein und Anfang der sechziger Jahre, man glaubt es kaum, ein spezielles „Desinformationsreferat“ in der Hauptverwaltung Aufklärung. Zudem regelte das MfS peinlich genau in „Richtlinien“ und Dienstanweisungen, wie Dissidenten schikaniert werden sollten. „Richtlinie 1/76“ empfiehlt die „systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes“ oder „die gezielte Verbreitung von Gerüchten über bestimmte Personen einer Gruppe“. Das Selbstvertrauen der Kritiker sollte untergraben, ihr Mißtrauen gegen jedermann geweckt werden. Im MfS-Jargon heißt derartiges Treiben kurz „Zersetzung“.

Ja, klar und deutlich waren die Anweisungen schon – und sie wurden bis zum Ende der DDR umgesetzt: Eines der letzten Opfer wurde Wolfgang Templin, über den Stasi-Mitarbeiter so lange das Gerücht streuten, er sei ein Spitzel, bis es seine Bekannten glaubten und weitererzählten. Erst daraufhin, so der detaillierte MfS-Plan, durften ausgewählte IMs das Gerücht großräumig verbreiten. Hatte die Stasi ihren Plan erfüllt, zierte sie die Akte mit einem Häkchen oder einem schlichten „erledigt“. Ordnung muß sein. Und die hat das MfS mit seinen weit über 100.000 Mitarbeitern gegen die wenigen Dissidenten erreicht. Gescheitert sind Stasi wie Staat, so Eisenfelds Schlußfolgerung, letztlich an der Flut der Ausreisewilligen, die mit keinem noch so perfiden Plan zu stoppen waren, zumal sie ihren Protest gegen die DDR öffentlich vortrugen. Denn je offener der Widerstand, desto geringer die Chancen für das Gerücht.

Zweimal politische Gerüchte: einmal der Staat als Betroffener, einmal als Autor. Aber den Begriff „Gerücht“ hat weder Eisenfeld definiert noch Neubauer, der sich in seinem Vortrag primär auf die Aussagen der „Rumor clinics“- Psychologen stützte (Vorsicht Fama!). Der Soziologe Jean-Noäl Kapferer (HEC, Paris) versuchte in seinem lockeren Vortrag, den Begriff summarisch zu definieren: Ein politisches Gerücht ist demnach meist lokal begrenzt und entsteht in homogenen Gruppen (Soldaten oder Nachbarn in der Provinz). Es hat oft keinen speziellen Autor, sondern geht aus Gerede hervor. Häufig ist sein Inhalt eine Verschwörungstheorie – Geheimbünde haben die Macht – oder Verrat: Ein Gewählter erfüllt seine Pflichten nicht. Solche Gerüchte tauchen meist vor Wahlen auf, funktionieren jedoch nur, wenn der Betroffene ohnehin einen schlechten Ruf hat. Nach der Wahl verschwinden die Gerüchte wieder, weil sie nutzlos geworden sind.

Das ist eine praktische und funktionale Definition, die jedoch wenig darüber sagt, warum Gerüchte geglaubt werden und warum sie die politische Imagination und das kollektive Bewußtsein der Menschen bestimmen können. Dennoch lieferte Kapferer und die anderen Referenten im Centre Marc Bloch erste Ansätze, um die verschiedenartigen phänomenologischen Erkenntnisse über das Medium Gerücht zu erweitern und zu systematisieren.