■ Kommentare Achtung der Menschenrechte im eigenen Land
: Selektive Wahrnehmung

Den Festgenommenen wurden die Beine gekrümmt, die Arme hinter dem Rücken gefesselt, ein Fuß unter das gegenüberliegende Knie und der andere Fuß unter die Handschellen geschoben. Oder: Ein Verdächtiger wurde im Polizeigewahrsam aus kürzester Entfernung erschossen – angeblich hatte er Zigaretten gestohlen. Auf einer anderen Polizeiwache mißhandelten Beamte einen Falschparker. Einer packte den Festgenommenen an den Haaren und schlug seinen Kopf an die Wand.

Das passierte nicht etwa in Kolumbien oder Iran, sondern in Europa: in Dänemark, Frankreich und Deutschland. Die „Beinfessel“ wurde in Kopenhagen nach einem amnesty-Bericht 1994 verboten, der schießwütige Polizist aus Paris wurde vor kurzem zu acht Jahren Haft verurteilt. Und die Ermittlungen gegen die deutschen Beamten laufen.

Als amnesty international (ai) am 13. März dieses Jahres eine weltweite China-Kampagne startete, war die Resonanz groß. Die ausführliche Dokumentation über das Schicksal Tausender politischer Gefangener, über willkürliche Verhaftungen, Folter und den exzessiven Gebrauch der Todesstrafe löste Betroffenheit aus. Niemand kam auf die Idee, den Wahrheitsgehalt der Informationen anzuzweifeln oder die Zuverlässigkeit der Organisation zu hinterfragen. Noch uneingeschränkter ist die Zustimmung, wenn die Länder weder ökonomisch noch strategisch eine besondere Bedeutung haben.

Wenn amnesty aber Berichte über polizeiliche Mißhandlungen in Österreich, Spanien, Italien oder Großbritannien veröffentlicht, wird das hierzulande eher skeptisch beäugt. Dabei listet der Jahresbericht der Organisation Menschenrechtsverletzungen in mehr als 30 europäischen Staaten auf. Plötzlich sollen die Informationen, die genauso sorgfältig ermittelt und geprüft worden sind wie die zu Ruanda oder Chile, unzuverlässig sein. Offenbar will man die Übergriffe vor der eigenen Haustür nicht wahrhaben, oder man spielt sie, wenn sie nicht mehr zu leugnen sind, herunter. Einige deutsche Politiker und Journalisten sowie die Gewerkschaft der Polizei verharmlosten die ai-Berichte zu Übergriffen deutscher Polizisten auch dann noch als „bedauerliche Einzelfälle“, als eine Studie, die im Auftrag der Innenministerkonferenz erstellt worden war, bereits festgestellt hatte, daß es sich dabei weder um „Einzelfälle“ noch um ein „systematisches Verhalten“ handele. Es ist an der Zeit, daß die europäischen Staaten sich nicht nur als Wächter der Menschenrechte in fernen Ländern betrachten, sondern die Achtung der Menschenrechte im eigenen Haus sicherstellen. Harald Gesterkamp

Der Autor ist verantwortlicher Redakteur des ai-Journal, dem monatlich von amnesty international in Bonn herausgegebenen „Magazin für Menschenrechte“.