Alt-neue Geheimniskrämerei im Minatom

■ Das Desaster von Tschernobyl verfestigte die Machtstrukturen im russischen Atomministerium. Geändert hat sich nur Formales, das Monopol wird behauptet

Köpfe sollten rollen, nach Tschernobyl. Deswegen wurde der gesamte Nuklearbereich dem Ministerium für Atomenergie, dem russischen Minatom, unterstellt. Es blieben jedoch dieselben Leute auf etwas anderen Positionen; der jetzige Minister, Viktor Michajlov, arbeitet seit Jahren im Hause, seine Vorgänger aus Sowjetzeiten sind seine Stellvertreter geworden. Der Hauptaufgabe des Ministeriums nach Ende des Wettrüstens, der Drosselung der Produktion für militärische Zwecke, kamen sie nach, ohne Zahl und Größe der Anlagen zu verringern. Geändert hat sich nur Formales – weiterhin kann das institutionell sogar gekräftigte Minatom in Rußland seinen großen Einfluß spielen lassen, weiterhin kann es seine restriktive Informationspolitik betreiben.

Zu genau diesem Ergebnis kommt David Oberhuber in seiner vor ein paar Tagen erschienenen und sehr fundierten Schrift „Rußlands Nuklearsektor zehn Jahre nach Tschernobyl“. Er weist nach, daß militärische und zivile Nuklearproduktion in Rußland derart ineinander verzahnt sind, daß auch die zivile Nutzung aus militärischen Gründen als top-secret erklärt wird.

Immer schon gab es eine „zweite Wahrheit“: Unfälle, Verseuchung, „friedliche“ Atomexplosionen für Übertageabbau, Atombombenversuche in bewohnten Gebieten, Entsorgung in Trinkwasserreservoirs. Städte entstanden, von denen nur Postleitzahlen bekannt waren und deren Einwohner ihr Eingeschlossensein mit Privilegien entgolten bekamen. Heute leben etwa drei Millionen Menschen in diesen Städten – abhängig vom einzigen Arbeitgeber, der Nuklearindustrie.

1992 erhielt das vom Minatom eisern verteidigte Monopol durch den staatlichen Wiedereinstieg in die Nuklearenergie erstmals nach Tschernobyl eine neue Chance. Die wirtschaftliche Misere erlaubt keine großzügigen Zuschüsse, also wurde als Devisenbringer die Aufbereitung und Endlagerung von Atommüll ausfindig gemacht. Wegen des rund um den Globus bekundeten Interesses entsteht zur Zeit eine Wiederaufbereitungsanlage in Krasnojarsk, die als weltweit größte konzipiert ist.

Minatom setzt eigene ökonomische Vorteile politisch durch: Es vertritt sich vor sich selbst. Und behindert die schwache Atomaufsichtsbehörde in ihrer Arbeit. Eine auf Weisung Jelzins einberufene Untersuchungskommission konnte sich zum Beispiel keinen Zutritt zu einer der geschlossenen Städte verschaffen.

Oberhuber erörtet die notwendige Eindämmung der Macht von Minatom, die in die Forderungen nach Risikominimierung für die Zukunft unbedingt einbezogen werden muß, und schließt: Das Eigeninteresse der dem Minatom untergeordneten Betriebe müßte „durch die Förderung direkter wirtschaftlicher Kontakte mit und zwischen den Einzelbetrieben und vor allem durch wirtschaftliche Perspektiven, die insbesondere den geschlossenen Städten auch außerhalb der Nuklearproduktion geboten werden, unterstützt werden“.

Ein erster Schritt zur Hilfe für verseuchte Gebiete, so Oberhuber, wäre die strikte Trennung von ziviler und militärischer Nutzung, da dann wenigstens der zivile Bereich offenzulegen wäre.

Die Ergebnisse dieser engagierten, lesenswerten Studie sind erschreckend. Zehn Jahre nach Tschernobyl wird die Sicherheit in den Hintergrund gestellt – und der Ausbau nuklearer Anlagen exzessiv betrieben. Unter Geheimhaltung, nach wie vor. Mareile Ahrndt

David Oberhuber: „Rußlands Nuklearsektor zehn Jahre nach Tschernobyl. Kontinuität im Wandel“. In: Untersuchungen 10/1996 der Forschungsstelle für Konflikt- und Kooperationsstrukturen in Osteuropa, Universität Mannheim, 50 Seiten, 8 DM