Unmögliche Grenzverläufe

Aus Angst vor Gewalt ist Indien in bezug auf Bücher wachsamer geworden. Zensur- Themen sind Sex, Religion – aber vor allem auch Landkarten  ■ Von Urvashi Butalia

Auf der Weltbuchmesse in Delhi mußten vor kurzem die Veranstalter, der National Book Trust, dreißig Bücher aus den Ausstellungsregalen nehmen. Das Thema der Messe war Südostasien und hatte deshalb viele Verlage aus Pakistan, Bangladesch, Nepal, Sri Lanka und Bhutan angezogen. Viele der aus dem Verkehr gezogenen Bücher waren außerhalb Indiens veröffentlicht worden, die meisten in Pakistan und England.

Die in ihnen, nach internationaler Übereinkunft, eingetragenen Grenzen Indiens erschienen dem indischen Staat unakzeptabel. Und weil der National Book Trust staatlich finanziert ist, hatte er keine andere Wahl, als die Entfernung dieser Bücher anzuordnen. In einigen anderen Fällen, in denen es nicht um Landkarten und Grenzen ging, waren Inhalte das Problem, die bei „gewissen Communities“ zu negativen Reaktionen führen könnten. Deshalb ging man lieber gleich auf Nummer Sicher.

Diese Haltung hat sich in der indischen Buchwelt seit der Rushdie-Affäre immer mehr durchgesetzt. Das Verbot seines Buches, das übrigens bis heute gilt, und die Gewalt, die sich an den „Satanischen Versen“ entzündete, markieren einen Scheidepunkt in der Geschichte des indischen Verlagswesens. Bestimmte Bücher – welche, ist gar nicht so einfach zu definieren – waren in Indien schon immer verboten oder in ihrer Verbreitung eingeschränkt. Zu Kolonialzeiten verbot man Bücher, die für Inder als „unangemessen“ galten, mit der einfachen Taktik, jegliche Finanzierungshilfe zu verweigern. „Direktoren der öffentlichen Bildung und Erziehung“ konnten entscheiden, was gelesen werden durfte und was nicht.

„Schädliche“ Werke und nackte Göttinnen

Auch nach der Unabhängigkeit behielt sich der Staat das Recht vor, „Unaussprechliches“ zu verbieten. Eines der ersten Opfer war Stanley Wolperts Rekonstruktion der Verschwörung zur Ermordung Gandhis („Nine Hours to Rama“). Das Buch wurde sofort nach Erscheinen verboten, weil es ein eher positives Bild des Gandhi-Mörders zu zeigen wagte.

Im großen und ganzen hatte Indien vor der Rushdie-Affäre jedoch eine einigermaßen liberale Haltung in bezug auf Publikationen. Nach der Unabhängigkeit schlug die politische Führung den Weg größtmöglicher ökonomischer Autonomie ein: Ausländische Unternehmen bat man um Rückzug, dafür wurden indische Initiativen ermutigt und unterstützt. Außerdem wurden ausländische Importe mit massiven Einfuhrzöllen belegt, wovon lediglich Bücher ausgeschlossen waren. Ausgehend vom Prinzip des freien Zugangs zu Information und Bildung, erlaubte der indische Staat allen Personen und Organisationen, Bücher in unbegrenzten Mengen einzuführen. Zwar gab es gewisse Beschränkungen für Bücher ohne „erzieherischen Wert“, aber deren Zweck diente eher dem Schutz des einheimischen Marktes vor Überschwemmung mit ausländischen Büchern.

Aus Angst vor Gewaltakten, wie sie das Erscheinen der „Satanischen Verse“ hervorgerufen hatte, wurde der indische Staat in bezug auf Bücher wesentlich wachsamer. Betroffen davon waren besonders drei Themenfelder: Landkarten und internationale Grenzen (soweit sie die Sicherheit des Landes betrafen), Religion (und in deren Verlängerung natürlich Politik) und Sex – mit anderen Worten: militärische Sicherheit, Politik und Moral.

Das Gesetz zur Regelung von Zoll und Verbrauchersteuer, bis vor kurzem noch mehr oder weniger moribund, wurde plötzlich völlig willkürlich wieder zum Leben erweckt. Es ermächtigt Zollbeamte, Einfuhr und Verkauf aller Waren zu unterbinden, die sie für „schädlich“ halten. Und so verbot denn auch ein Zollbeamter einem Buchhändler im südindischen Vijaywada den Verkauf von Rushdies neuestem Buch „The Moor's Last Sigh“. Diese Order wurde später für ganz Indien gültig – allerdings nicht, bevor der Verlag sich zur „freiwilligen Selbstkontrolle“ entschlossen und den Verkauf des Buches in Bombay gestoppt hatte, wo die örtliche Rechtspartei gegen das Buch protestiert hatte. Dieses Verbot ist erst kürzlich wiederaufgehoben worden.

In den letzten Monaten hat es viele solcher Fälle willkürlicher Anordnungen gegeben. Zu den Büchern, die vom Zoll zurückgehalten wurden, gehören Foucaults „Geschichte der Sexualität“ (die früher problemlos erhältlich war), Freuds Arbeiten zur Sexualität, eine Sammlung chinesischer Liebesgedichte und Louisa May Alcotts Buch „Little Women“, bei dem man sich vor Szenen mit „unnatürlichem Sex“ ängstigte. Kürzlich wurde ein im Ausland gedrucktes Buch über indische Maler vom Zoll ohne Angabe von Gründen gestoppt. Gerüchten zufolge deshalb, weil darin Hindugöttinnen nackt dargestellt sind. Kurz vorher wurde die „Encyclopædia Britannica“ zurückgehalten, weil die Seiten über Indien unakzeptable Grenzverläufe enthielten; auch Anais Nins „Delta der Venus“ ließ man nicht ins Land, und Oxford University Press in Pakistan berichtet, daß zwei Titel des Verlages seit nunmehr einem Jahr im indischen Zoll feststecken.

Selbstzensur durch neue Tugendwächter

Weltweit ist die Art direkter staatlicher Zensur, wie man sie aus der ehemaligen Sowjetunion kannte – und heute noch aus China, wo 1989 beispielsweise 41 Verlage zwangsweise geschlossen wurden –, im Rückgang begriffen. Offene staatliche Zensur wurde, zumindest teilweise, durch zensorische Maßnahmen einzelner staatlicher Institutionen ersetzt, so auch in Indien. Dadurch ist das Problem eher schwieriger anzugehen, zumal es von einer Zensur ganz anderer Art begleitet wird.

In vielen Regionen hat nämlich ein neuer Nationalismus und die Suche nach einer „authentischen Identität“ dazu geführt, daß sich immer mehr Leute zu Wächtern der öffentlichen Moral berufen fühlen. Sie sind es, die durch Gewalt oder politische Einflußnahme bestimmte Arten von Literatur zu verhindern versuchen. Beides zusammen, staatliche Zensur und die fundamentalistischer Gruppen, führt zu Selbstzensur, nicht nur bei Autoren, sonden auch bei Verlegern.

Im Dezember 1994 wurde in Mauritius der Roman „The Rape of Sita“ von Lindsey Collen von der Regierung verboten. Das Buch war erst drei Tage auf dem Markt, als sich eine Gruppe Hindus, stellvertretend für ihre Glaubensgenossen im Inselstaat, durch dessen Titel beleidigt fühlte. Die Göttin Sita, Frau des Gottes Rama, symbolisiert eheliche Tugend und Keuschheit. Die Vorstellung, daß Sita hätte vergewaltigt werden können, war für viele Hindus offenbar untragbar, so daß ihre selbsternannten Repräsentanten ein Verbot des Buches forderten. Die Autorin wurde mit Vergewaltigung und Mord bedroht, die Regierung gab nach und verbot das Buch.

Als Collens Buch in Mauritius verboten wurde, hatte es noch gute Chancen, statt dessen in Indien veröffentlicht zu werden. Trotz ihres Interesses hatten die Verleger jedoch Angst, daß auch im gegenwärtigen politischen Klima Indiens allein der Titel des Buches ausreichen würde, daß es zu gewalttätigen Reaktionen kommt und der Roman am Ende auch dort aus den Regalen der Buchhandlungen verschwinden müßte. Das Dilemma bestand darin, den Roman entweder mit seinem Originaltitel zu veröffentlichen und damit an einer höheren „Wahrheit“, der Meinungsfreiheit, festzuhalten oder den Titel doch lieber zu ändern und so dafür zu sorgen, daß das Buch seine Leser tatsächlich erreicht.

Worin lag hier die für einen Verleger entscheidende Verantwortlichkeit? Sollte es um die Meinungsfreiheit gehen – die meiner Meinung nach ohnehin nicht als absolute Kategorie gesetzt werden kann – oder darum, daß das Buch und damit der Verlag überleben kann? Eine befriedigende Antwort darauf wurde nicht gefunden, das Buch erschien letztlich in Großbritannien und nicht in Indien.

Keine Frage des Geschmacks

Indien ist heute eines der Länder mit der weltweit größten Buchproduktion. Die offizielle Zahl der jährlichen Neuerscheinungen liegt bei 22.000, die inoffizielle ist sehr viel höher. Theoretisch und praktisch ist das Land eine Demokratie, und jedem Bürger stehen bestimmte Rechte zu, einschließlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung.

Tatsache ist jedoch auch, daß sowohl auf staatlicher als auch ziviler Ebene vielfache Einschränkungen den Spielraum aller Bürgerinnen und Bürger haben kleiner werden lassen. Die zunehmende Polarisierung in ethnischen, religiösen und Identitätsfragen und eine zunehmend intoleranter werdende Gesellschaft machen es immer schwieriger, eine abweichende Meinung zu vertreten.

Deshalb ist es wichtig, öffentlich solche Fragen zu stellen wie: Wenn in Büchern „unakzeptable“ Grenzverläufe dargestellt sind, würde dann die Mehrzahl der Inder diese Grenzen automatisch für richtig halten? Und würde ein Buch, das sich mit Sex beschäftigt und frei verkäuflich ist, den moralischen Zusammenbruch eines ganzen Volkes bewirken? Viele Publikationsbeschränkungen, ob sie vom Staat, seinen Bürgern oder von Verlagen selbst ausgehen, arbeiten mit solchen Annahmen.

Die Öffnung des indischen Marktes für ausländisches Kapital und die Entwicklung eines globalen Marktes per Informationstechnologie könnte für die Meinungsfreiheit ein positiver Schritt sein. Doch die Globalisierung hat auch mit sich gebracht, daß die Kontrolle der Kommunikationsindustrie in den Händen einiger weniger Mediengiganten liegt, die jetzt den Markt beherschen und diktieren, was veröffentlicht wird und was nicht. Hier haben die Stimmen und Meinungen zum Beispiel der Armen, der Marginalisierten, der Frauen und Kinder keinen Platz.

In diesem Klima, in dem die Frage der Zensur immer komplizierter wird und nicht mehr nur Geschmacksfragen berührt, sondern vielmehr mit Angst vor Gewalt und Strafe zu tun hat, ist es um so wichtiger, daß wir uns für diese Stimmen des Dissenses und Widerstandes stark machen. Die Verlagswelt kann durch die Pluralität verschiedener Stimmen nur bereichert werden. Und nur dadurch erlangt der Ausdruck „Meinungsfreiheit“ wirklich Bedeutung.

Urvashi Butalia ist eine der Gründerinnen des Verlages „Kali for Women“, Delhi