Tschernobyl macht stumm

■ Bremer SchülerInnen hörten eine Lehrerin aus Weißrußland und hatten keine Fragen

Zwanzig Jugendliche waren gekommen, einer mit orangen Haaren, einige schüchtern wirkende, ernste junge Damen – zwei junge Männer schlenderten im Sportdress und nach Shampoo duftend in den Raum. Bis auf zwei blieben sie alle stumm. Jan (18 Jahre) meinte hinterher achselzuckend: „Das sind einfach Kategorien, in denen man schlecht denken kann. Da ist man beklommen und kann nichts sagen.“ Desinteresse sei dies ganz sicher nicht.

Die Initiative „Leben nach Tschernobyl“/ Bremen-Minsk hatte Galina Gromyko aus Weißruland zu einem Informationsgespräch ins Gymnasium gebeten. Galina Gromyko ist auf Einladung der Ini-tiative zur Zeit mit ihrer dritten Grundschulklasse in der Stadt. Zum Termin in der Schule kam sie, um Schrecken und Ausmaß des Reaktorunfalls den Bremer Jugendlichen etwas näher zu bringen.

„Seid Ihr informiert?“ fragte die Lehrerin Barbara Bethge ihre SchülerInnen. Die zwanzig jungen Leute des Schulzentrums in der Vahr/ Sekundarstufe II murmelten Unverständliches, manche zückten ihre Kugelschreiber. Jan warf sein Tonband an.

Galina Gromyko erzählte. Die Grundschullehrerin lebt mit ihrer Familie in Druschnij bei Minsk, einer kahlen Wohnblockstadt, wohin sie 1986 nach dem Reaktorunfall umgesiedelt worden war. Familie Gromyko lebte ursprünglich nur drei Kilometer von Tschernobyl entfernt, in Pripjatj. Evakuiert wurde von dort am 27. April, erst einen Tag nach dem Unfall. „Wie war denn Ihre Reaktion auf die Evakuierung?“ fragte Lena. „Daß wir nie mehr zurückkommen werden, hat uns niemand gesagt“, so Galina Gromyko.

Sie, eine Mutter von zwei inzwischen erwachsenen Kindern, war sehr zurückhaltend in ihrem kleinen Bericht wie in ihren Antworten. Ihr Mann, ein Bauingenieur, hat sieben Jahre lang als sog. Liquidator in der Nähe des Reaktors gearbeitet – alles Verseuchte mußte zusammengetragen werden. „Er hat jetzt Magen- und Darmprobleme.“

Stichpunktartig riß Galina Gromyko ein paar der Irritationen an, die seit dem 26. April 1986 das Leben der Menschen in der Ukraine, Rußland und Weißrußland bestimmen: Das Informationsdefizit, Kinder, die an Schilddrüsenkrebs erkranken, eine Landbevölkerung, die verseuchtes Holz verheizen und selbstangebautes, verstrahltes Obst und Gemüse verzehren muß, weil die Versorgung so schlecht sei. „Tschernobyl ist unser Leben geworden“, sagte Gromyko. Wenn sich jemand beschwerte, komme der Vorwurf von „Radiophobie“.

Lena (19 Jahre) nickte der Frau zu, noch bevor deren Worte übersetzt wurden. Lena spricht selbst russisch, ist vor anderthalb Jahren mit ihren Eltern von Kiew nach Bremen gekommen. Kiew ist zwanzig Kilometer von Tschernobyl entfernt. „Wir haben damals noch die Parade am ersten Mai gemacht, und erst am fünften Mai wurden wir gewarnt. Ich glaube, da haben wir ziemlich viel abgekriegt“, so Lena.

Lena wollte wissen, was Galina Gromyko sich zu sagen traut. Sie weiß, daß die (weiß-)russische Mentalität eine des Schweigens und Gehorsams ist. Als ein Lehrer im Bremer Publikum die Kollegin aus Druschnij nach Bürgerinitiativen gegen die Atomkraft fragte, sagte diese, „die ganze Stadt ist eine Initiative.“ Politisch aktive AtomkraftgegnerInnen gebe es jedoch nicht.

Es war eine stille Veranstaltung an diesem Nachmittag, die Worte Tod und Krankheit fielen. Aber auch von „Betroffenheit“ und „Ohnmacht“ war die Rede und von einer Unsicherheit, die sich in den zehn Jahren nicht verringert, sondern immens vergrößert habe. Nach einer Stunde schaltete Jan sein Aufnahmegerät ab und meinte, er habe einen kleinen Einblick in das Leben der Menschen in Weißrußland erhalten. Er, der die Katastrophe als Achtjähriger hauptsächlich darüber erlebt hat, daß das Pilzesuchen mit seinen Eltern für einige Zeit nicht stattfand, fand dann doch noch eine Erklärung für das Schweigen seiner MitschülerInnen: „Das Wort Tschernobyl kennt jeder, aber man spricht nicht darber.“ Flugs war das Zimmer leer. sip