Der Mann fürs Grobe

■ betr.: „Mit Singer muß man disku tieren“, taz vom 15. 4. 96

Der australische Bioethiker Peter Singer wurde von den Organisatoren des Heidelberger Kongresses wieder ausgeladen, und das ist zunächst einmal gut so. Allerdings ist die Begründung, man befürchte „gewalttätige Störungen des Kongresses“ durch Behinderte, unglaubwürdig.

Gemeinsam mit den Abgeordneten Monika Knoche (Bündnis 90/Grüne) und Robert Antretter (SPD) hatte ich die Veranstalter öffentlich aufgefordert, ihre Einladung an Herrn Singer zurückzunehmen. Wir haben unser Vorgehen damit begründet, daß Singer ein Recht auf Leben nur denen zugesteht, die seiner Auffassung nach „Personen“ sind. Singer und mit ihm die Heidelberger Veranstalter halten die Tötung wehrloser Menschen für ein Thema, das einer akademischen Diskussion zugänglich ist. Doch steht das Recht auf Leben eines jeden Menschen höher als Forschungs-, Rede- und Meinungsfreiheit. Eine akademisch-philosophisch verbrämte „Lebensunwertdiskussion“, allein schon die Zulassung solcher „Denkmöglichkeiten“, verletzt die Menschenwürde.

Singer ist auch deshalb besonders publikumswirksam und umstritten, weil er seine extremistischen Positionen so drastisch und holzschnittartig vertritt. Sein öffentliches Auftreten als Mann fürs Grobe und als Pionier käme vielen zupaß, die sich (bio-)„ethische“ Argumentationsstützen dafür wünschen, daß man gegebenenfalls – und bei Einhaltung gewisser Grenzen, natürlich – eben doch die Ernährung eines behinderten Säuglings, eines schwer pflegebedürftigen Alten oder eines Komapatienten einstellen kann. Oder daß jemandem auf Wunsch oder wenn er keinen Widerspruch eingelegt hat oder wenn es die Angehörigen wünschen oder ... die Todesspritze gesetzt werden darf. Und dies nicht nur in Abwägung der Umstände des konkreten Einzelfalls, sondern grundsätzlich. Ob aus Kostengründen oder letztlich eugenischer Motivation ist hierbei zunächst unerheblich. Eine entsprechende, akademisch-gepflegte Diskussion der Kriterien für das Verhungern- und Verdurstenlassen von Wachkomapatienten findet in Deutschlands und Europas Bioethikszene ja bereits statt. Sollte dies etwa der Aufmerksamkeit der Herren Simon und Fischer entgangen sein?

Auch der NS-Rassen- und Bevölkerungspolitik ist eine „saubere“ akademische Diskussion in gepflegten Kreisen vorausgegangen. Dort wurde lange vor Hitlers Machtergreifung über die „bessere Erfassung der Minderwertigen“, die „Begrenzung der Fortpflanzung Erbkranker“, die „Tötung lebensunwerten Lebens“ diskutiert. Eine von Fischer und Simon an mir kritisierte „Tabumoral“ gab es damals jedenfalls nicht.

Schön, daß Fischer und Simon Singers Glücksargumentation nicht „akzeptieren“ – die ist aber gar keine Neuerfindung von Singer. Schon 1920 schrieb Binding in dem gemeinsam mit Hoche veröffentlichten Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“: „Selbstverständlich kann auch gegenüber dem Geistesschwachen, der sich bei seinem Leben glücklich fühlt, von Freigabe seiner Tötung nie die Rede sein.“ Doch befürwortete Binding die Tötung „unheilbar Blödsinniger“, denn diese hätten „weder den Willen zu leben noch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müßte.“ Singer drückt das heute nur moderner aus. Und Bindings Coautor Hoche befürwortete die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ so: es gebe „Zustände geistigen Todes“, bei denen ein „geistiger Rapport“ mit der Umwelt ausgeschlossen sei. Auch dafür hat Singer heute modernere Begriffe parat (Rationalität, Autonomie und Selbstbewußtsein oder „ein gewisses Bewußtsein seiner selbst als eines in der Zeit existierenden Wesens oder eines kontinuierlichen geistigen Selbst“).

In den Freiburger Vorlesungen von Professor Hoche saß auch Werner Heyde, der ab 1939 die Patientenmorde (Aktion T4) organisierte. Hoches Gedankengut war offenbar auf fruchtbaren Boden gefallen.

Damit sie zukünftig nicht in den Verdacht geraten, hierüber nur „drei Sätze gelesen zu haben“, kann ich Simon und Fischer gerne Literaturhinweise zur Verfügung stellen. Einstweilen aber fällt ihr Vorwurf der „großen Koalition der Heuchelei“ auf sie selbst zurück. Hubert Hüppe, MdB, CDU