Der Tod macht Dudajew zum Helden

Tschetscheniens Führung ist durch den Tod ihres Präsidenten zwar zunächst geschwächt, hat aber zugleich eine unangreifbare Leuchtfigur gewonnen, die Fraktionskämpfe überstrahlt  ■ Von Erhard Stölting

Über viele Stunden hin hatte Unsicherheit bestanden, ob die Meldung von Dudajews Tod eine russische, das Dementi eine tschetschenische Ente seien. Beiden Seiten ließ sich plausibel eine Lüge unterstellen. Denn immerhin herrscht in Tschetschenien Krieg. Und im Krieg werden Lüge und Wahrheit je nach Lage als Waffen eingesetzt. Sturz oder Tod des gegnerischen Kriegsherren sät Unsicherheit unter dessen Truppen. Für die russische Seite bedeutet das einen taktischen Vorteil. Auch das kurzzeitige Dementi einiger tschetschenischer Politiker war verständlich: Wenn der Präsident tot ist, muß die Demoralisierung der Truppen und der Bevölkerung verhindert werden.

Es war also taktisch klug gewesen, die Information über Dudajews Tod durch einen Raketenangriff mehrere Tage lang zurückzuhalten, bis die Nachfolgefrage geklärt war. Die erste russische Meldung, er sei von seinen eigenen Leuten ermordet worden, war dennoch nicht vollkommen unplausibel. Dudajew hätte tatsächlich einer Intrige zum Opfer fallen können. Es war bekannt, daß der tschetschenische Präsident unter den militärischen Führern des Widerstands umstritten war. Es gab scharfe Konflikte über die Frage, wie weit man sich auf russische Kompromißangebote einlassen solle. Es gibt in Kriegen immer Gruppen und Unterführer, die noch radikaler sind. Zweimal hatten Unterführer – offenbar auf eigene Faust – Geiseln genommen. Zuweilen war ungewiß, ob die tschetschenische Führung noch berechenbar war. Dudajew war der Oberste, aber ob er die Zügel tatsächlich in der Hand hatte, war nicht immer klar.

Fraktionskämpfe werden häufig erbittert und ohne Rücksicht auf Verluste ausgetragen; die ganze Aufmerksamkeit konzentriert sich nach innen. Wenn Dudajew, wie sich nun zeigte, nicht in Fraktionsauseinandersetzungen umkam, so ist deren Möglichkeit damit nicht verschwunden. Ein offener Konflikt in der Führung oder gar einer, der unter Blutvergießen ausgefochten wird, würde sie in Tschetschenien selbst außerordentlich schwächen. Denn kaum etwas zerstört bei der Bevölkerung so sehr den Glauben an die Legitimität ihrer Führung. Andererseits sind in den Augen von Führungspersönlichkeiten Rivalen immer ein Ärgernis. Wer sich zu heftig ärgert, handelt nicht immer klug.

Die Russen werden den Augenblick nicht nutzen

Jetzt, da Dudajew tot ist, sind Auseinandersetzungen um die Nachfolge unausweichlich. Ob die Einigung auf Jandarbijew als neuen Chef wirklich geräuschlos und schnell geschehen ist und tatsächlich auf allgemeine Zustimmung stößt, läßt sich nicht sagen. Wäre die russische Führung klug, dann würde sie diesen Augenblick unvermeidlicher Schwäche der Tschetschenen nutzen. So wie sie bisher agiert hat, scheint ihr Klugheit aber zu fehlen. Bisher hat sie nicht gesehen, daß Stärke und Bombardements nicht immer dasselbe sind.

Indem Dudajew von einer Rakete getötet wurde, ist er für die tschetschenische Sache nicht verlorengegangen. Die künftige Präsentation ist voraussehbar: Dudajew ist im Kampf „gefallen“, sein Tod war nicht sinnlos, er ist ein Held. Jeder Nachfolger muß ihn in den Himmel heben und seine eigene Macht durch die frühere persönliche Nähe und die Treue zu Dudajew legitimieren. Welche politische Richtung auch immer sich durchsetzt, sie wird sich als die reine Verkörperung des Willens Dudajews darstellen müssen. Sollte Tschetschenien wirklich unabhängig werden, werden die wichtigsten Plätze und Straßen nach Dudajew benannt werden.

Kurzfristig bedeutet sein Tod aber eine Schwächung der tschetschenischen Seite. Nicht weil Dudajew so klug und edel gewesen wäre, sondern weil er eine zugleich symbolische und lebendige Integrationsfigur war. Sie fehlt nun. Eine neue muß erst aufgebaut werden. Langfristig aber ist das russische Bemühen, Tschetschenien gewaltsam zurückzuholen, erschwert. Denn die andere Seite stärkt sich mit einem neuen motivierenden Symbol.