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Einäugig unter lauter Blinden

Seit Mittwoch steht Shoko Asahara, Chef der Aum-Sekte, wegen der Giftgasanschläge in Japan vor Gericht. Seine Verurteilung scheint sicher – dennoch wird mit mehr als zehn Prozeßjahren gerechnet  ■ Aus Tokio Georg Blume

Auf dem Weg zum Gerichtssaal läßt sich der Tatort nicht umgehen. Das Tokioter Distriktgericht liegt unmittelbar über der U-Bahnstation Kasumigaseki. Drei Linien kreuzen sich in dem Bahnhof, an dem außerdem die wichtigsten japanischen Ministerien und das Polizeihauptquartier liegen. An diesem Zentralorgan im größten U-Bahnsystem der Welt war vor einem Jahr das Unvorstellbare passiert: Am Morgen des 20. März 1995 stiegen fünf Mitglieder der Sekte Aum Shinrikyo („Erhabene Wahrheit“) auf mutmaßlichen Befehl ihres Gurus Shoko Asahara in fünf verschiedene U-Bahnzüge, die sich alle gegen 8.15 Uhr im Bahnhof von Kasumigaseki treffen sollten. Die Aum-Leute trugen jeder eine Plastiktüte mit tödlichem Sarin-Gift und einen Regenschirm bei sich. Gegen 8 Uhr plazierten sie die Giftbeutel unter den Bänken und rissen mit der geschärften Spitze ihrer Regenschirme ein kleines Loch in die Plastikbeutel, so daß die Todessubstanz daraus evaporieren konnte. Wenige Minuten später zählte man elf Tote und über 5.000 Verletzte.

Heute ist die Spannung am Ort des Verbrechens erneut spürbar. Polizisten bewachen alle zwanzig Ausgänge der Station. Die Bahnhofsbeamten, die bei den Anschlägen Kollegen verloren, legen Sonderdienste ein. An jeder Mauerecke klebt ein Plakat Bildern der noch flüchtigen Täter, alle Papierkörbe sind mit Plastiktüten versiegelt. Eine U-Bahnstation ist eben kein Platz für Denkmäler.

Der japanische Staat demonstriert Gelassenheit

Oben vor dem Gerichtsgebäude wirkt dagegen alles gänzlich normal. Das Leben ist weitergegangen, und zwei junge Mädchen lachen: „Die Sarin-Angriffe waren nicht gut. Aber wir haben keine Angst, mit der U-Bahn zu fahren, weil wir das selbst nicht erlebt haben. Es ist nur lästig, wenn man die Mülleimer im Bahnhof nicht benutzen kann.“

In dieser Atmosphäre kann der japanische Staat Gelassenheit demonstrieren. Die Sicherheitsbeamten vor dem Gerichtshof sind überfreundlich und salutieren zur Begrüßung. Drinnen gibt es nur eine einzige Kontrolle, kein Abtasten des Körpers, kein lästiges Öffnen der Taschen. Der Gerichtsdiener reicht noch eine Armbinde. Dann darf der angemeldete Besucher im Saal 104 Platz nehmen.

Der erste Blick fällt auf den Angeklagten. Nach der Lektüre des New Yorker ist man ja aufs Schlimmste vorbereitet. Im Prestigeblatt der US-amerikanischen Intellektuellen schreibt der Autor Murray Sayle: „Er hat Ähnlichkeiten mit dem brutalsten Visionär unseres Jahrhunderts – ein wenig beeindruckender, schlecht gebildeter Mann, der eine Lumpensammlung von zweitklassigen Ideen predigte und eine paranoide Angst vor Spionen und Verrätern hatte.“

Da sitzt der auf diese Weise mit Hitler gleichgesetzte Guru nun eingezwängt zwischen zwei Polizisten auf der Anklagebank und versucht zwei Tage lang, die gerade Haltung eines meditierenden Mönches einzunehmen. Es fällt ihm nicht leicht. Asahara legt den Kopf nach hinten und streckt den Körper. Er reibt sich das Gesicht und kratzt sich hinter den Ohren. Er wirkt konzentriert und abwesend zugleich. Einige Opfer der Giftgasattentate werden nachher behaupten, der Angeklagte habe das Gerichtsgeschehen vollkommen ignoriert.

Asaharas Äußeres hat unter der einjährigen Isolationshaft nicht gelitten. Sein schwarzer Vollbart ist seit der Verhaftung noch gewachsen und unterscheidet den Guru von den meisten japanischen Männern, die nur über spärlichen Bartwuchs verfügen. Die lange Haarmähne trägt er diesmal modisch als Pferdeschwanz. So kann sein Anblick den verbliebenen 600 Sektenmitgliedern durchaus gefallen. „Wir freuen uns auf den Prozeß“, sagt ein Sektensprecher vor Verhandlungsbeginn. „Asahara könnte von dort aus unseren Glauben beeinflussen.“

Dieser Aufforderung will der Guru gleich zu Beginn des Verfahrens nachkommen. „Mein Name ist Shoko Asahara. Ich bin der Führer von Aum Shinrikyo“, stellt er sich dem Gericht vor. Damit ist schon klar, daß Asahara nicht zurückstecken wird. Am Abend des ersten Prozeßtages bekommt der Angeklagte das Wort: „Vor und nach meiner Verhaftung ist mein Glauben der gleiche geblieben. Ich möchte den Menschen helfen, absolute Wahrheit, Freiheit, Glück und Freude zu finden. Dabei stören mich die Unwegsamkeiten nicht, die mir begegnen, wenn ich heilige Taten ausübe.“

Ohne daß der Richter zum Einspruch kommt, gelingt es dem Guru, innerhalb weniger Minuten seine Lehre zu rekapitulieren: Er spricht vom „heiligen Mitleid“ für diejenigen, die seine Wahrheit noch ignorieren, vom „heiligen Lob“ auf seine Führungsperson und vom „heiligen Desinteresse“ an der normalen Gesellschaft. „Asahara hat sich selbst und Aum gerechtfertigt und dabei seinen verbliebenen Anhängern gesagt: Trainiert weiter – unabhängig davon, was der Rest der Welt sagt“, erläutert der Religionswissenschaftler Hisayoshi Hayashi die Formeln des Gurus.

Über den Angeklagten weiß man inzwischen alles und nichts. Arm und halbblind wird er vor 41 Jahren als Sohn eines Tatamimatten-Herstellers geboren. Mit seinen zwei blinden Geschwistern muß er die Behindertenschule besuchen, weil dort die Eltern Unterstützung vom Staat bekommen. Als Einäugiger unter Blinden wächst ihm dort eine Führungsrolle zu. So will er Politiker werden und bemüht sich um die Aufnahme an einer Eliteuniversität, die naturgemäß scheitert, ebenso wie der spätere Versuch, bei den Parlamentswahlen 1990 zu kandidieren. Zwischen 1984, zur Zeit der Gründung von Aum Shinrikyo, und 1995 wächst die Zahl der Guru-Anhänger auf 15.000 in Japan und 30.000 in Rußland an. Die Sekte besitzt bald ein Guthaben von mehreren hundert Millionen Mark. Asahara läßt sich im Rolls- Royce durch Tokio kutschieren.

Warum folgte Japan der Sekte? Das ist kein Thema

Wird er das alles noch einmal erzählen, diese Glanzseite seiner Geschichte? Wie ihn der buddhistische Klerus in Japan hofierte und der Dalai Lama in Tibet? Wie sich Dutzende der besten Studenten Japans ihm anschlossen? Am Donnerstag bittet ein Leitartikel im Nihon Keizai, Tokios führender Wirtschaftszeitung, um Auskunft: „Bei einzelnen Sektenmitgliedern können wir uns heute vorstellen, wie ihr Lebenlauf verlief. Doch die eigentlichen Fragen bleiben unbeantwortet: Wie konnte sich eine normale Sekte in so kurzer Zeit zur Waffeneinheit verwandeln? Wie konnten Menschen so brutal werden? Vom Prozeß wollen wir eine Antwort auf die einfache Frage nach dem Warum.“

Das Gericht kann so nicht vorgehen. Es steht unter Druck, da dem Prozeß samt zwei Revisionen schon jetzt eine Dauer von über zehn Jahren vorausgesagt wird. Man ahnt etwas vom bevorstehenden Umfang des Verfahrens, als die Staatsanwälte am zweiten Prozeßtag 12.000 Dokumente auf der Richterbank aufschichten – dabei sämtliche Verhöre mit Opfern der Attentate und abtrünnigen Mitgliedern der Sekte. Sie sollen beweisen, daß Asahara – so die gestern verlesene Anklageschrift – „das Töten von Menschen rechtfertigte, wenn es in Übereinstimmung mit seinen Glaubenssätzen stand, und seit 1990 auch den wahllosen Massenmord billigte“. Daß der Guru die Giftgasattentate und weitere Morde, die ihm zur Last gelegt werden, selbst befehligte, entnimmt die Staatsanwaltschaft den Aussagen geständiger Aum- Mitglieder, die nun als Kronzeugen auftreten sollen.

Die Verteidigung hat es da nicht leicht. „Gerade weil die japanische Öffentlichkeit ihr Urteil schon gefällt hat, verlange ich einen fairen Prozeß“, sagt Hauptverteidiger Osamu Watanabe in seiner ersten Stellungnahme. Wie seine elf Kollegen ist Watanabe Pflichtverteidiger. Dabei gelten die vom Gericht Auserwählten als Dream Team. Watanabe kämpfte einst erfolgreich gegen eine Änderung des Prozeßrechts, die in Ausnahmen Verfahren ohne Verteidiger zugelassen hätte. Andere Anwälte Asaharas sind bekannte Gegner der Todesstrafe und ziehen deshalb Kritik auf sich. Yomiuri, Japans größte Zeitung, beschuldigt die Anwälte bereits indirekt der Prozeßverschleppung. Schon haben die Pflichtverteidiger eine lebenslange Rufschädigung zu fürchten und bleiben bis auf Watanabe und seinen Stellvertreter für die Öffentlichkeit inkognito.

Der Prozeß beginnt trotzdem in einer kooperativen Atmosphäre. Der Hauptverteidiger, der Vorsitzende Richter und der Chefstaatsanwalt gehören zur Creme des japanischen Justizapparats und wollen offenbar ein rechtstaatliches Verfahren. Wie Asahara die Gerichtsbühne nutzen wird, bleibt aber offen. „Ich weiß nicht, wie er plädieren will“, räumt Watanabe nach zwei Prozeßtagen ein.

Zuvor verlesen die Staatsanwälte die Opferliste von den Sarin- Anschlägen – fünf Stunden lang. Sie berichten, daß noch immer drei Opfer in ihren Krankenhausbetten mit dem Tod ringen. Zwei Ehefrauen der Ermordeten sitzen im Gerichtssaal, eine der beiden versinkt in Tränen.

Doch Asahara ist auch an diesem Tag nicht allein mit seiner Ignoranz gegenüber den Toten. Vor dem Gerichtssaal sorgen sich die zwei jungen Mädchen vor allem um das Schicksal von Joyu Fumihiro, dem noch im Gefängnis treuen Sprecher des Gurus. Er wurde nach den Sarin-Anschlägen im Fernsehen berühmt und populär. „Asahara soll Joyu retten, bevor er die Welt rettet“, sind sich die jungen Frauen einig. „Wenn Joyu aus dem Gefängnis kommt, kann er nur noch als Fabrikarbeiter Geld verdienen. Das wird schmerzlich für ihn und läßt mich allen Ärger über die Giftanschläge vergessen.“

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