Aus dem Tagebuch der Fotografin

Minsk, Weißrußland, Februar 1996

Nataschas Mutter kramte in ihrer Handtasche und zog schließlich ein Foto ihrer Tochter hervor. Das Bild war am Unabhängigkeitstag im Juli 1994 gemacht. Es zeigte das Mädchen herausgeputzt im blauen Satinkleid, mit weißen Lackschuhen. In Nataschas blonden Locken thronte die obligatorische große Schleife. Das Bild hatte keine Ähnlichkeit mit der glatzköpfigen Fünfjährigen, die vor mir auf der Bettkante saß. Die Kleine sah mich ernst an und sagte: „Da hatte ich noch meine Haare.“

Als ich sie traf, war Natascha schon drei Monate im Krankenhaus. So wie Natascha sahen alle Kinder auf der Leukämie-Station der Minsker Klinik Nummer 1 aus. Die Kinder dort wissen nur, daß sie krank sind, sich müde fühlen und Schmerzen haben. Sie kennen den Begriff Radioaktivität nicht und können mit dem Wort Tschernobyl nichts anfangen. Nur die älteren wissen, daß es einen Zusammenhang zwischen ihrem früheren Wohnort und ihrer Krankheit gibt. Sie kommen aus den Gebieten Gomel und Mogiljow – oder neuerdings auch aus Grodno und Witebsk. Dort glaubten ihre Eltern neun Jahre lang, daß diese Gebiete „sauber“ wären. Sie haben normal gelebt. Und „normal“ verstrahlte Lebensmittel gegessen. Was hätten sie auch tun sollen? Außer den Grundnahrungsmitteln Brot und Mehl ist alles furchtbar teuer. Frisches Obst und Gemüse können Normalverdiener sich kaum leisten – und in den langen, russischen Wintern verschärft sich die Situation sowieso. Die Leute sagen hier, daß die Behandlung für vieler Kinder ohne humanitäre Hilfe aus dem Ausland wohl unmöglich wäre. Wie es für die kranken Kinder weitergeht, welche Folgen das Unglück für die nächsten Generationen hat, weiß niemand. Auch nicht, ob Natascha je gesund wird und ihre große Schleife wieder ins Haar binden kann.

Martina Buchholz

Alle Fotos dieser Seite stammen von Martina Buchholz. Soeben erschien im Wuppertaler Hammer Verlag das Buch „Iß'Deinen Brei und halt' Dein Maul“ von Martina Buchholz und Eva Brandt.