Gefangen in der falschen Haut

■ Der doppelte Pier Paolo: Johann Kresniks Annäherung an Pasolini am Hamburger Schauspielhaus. Wer hat noch Angst vorm nackten Mann?

Ein nackter Mann besteigt den riesigen, goldglitzernden Altar, vor dem eine blasphemische Madonna tanzt. Hinter ihm erhebt sich funkelnd das heilige Kind, in die Strahlen seiner bunten Jahrmarktskrone malte Bühnenbildner Gottfried Helnwein kopulierende Männer. Die fette Vaterfigur im Bischofsgewand wälzt sich aus dem goldenen Bauch des Gottesthrons heraus – altbekannte Provokationen des Choreographen Kresnik? Nur noch für die, die sich von nackten Männern und geschändeten Altären schockieren lassen. Kurz vor seinem Tod schrieb Pier Paolo Pasolini an seinen Freund Moravia über sein letztes Werk, den fragmentarischen Roman „Petrolio“, er habe ihn zwischen sich und die Leser gestellt, als Objekt, das ihm Abstand gewähre. Johann Kresnik respektiert diesen Abstand. Nicht Pasolinis riskantes Leben wird ausgeschlachtet. Mit den elf Schauspielern und vier Tänzerinnen erforscht der Choreograph, was ihn zum Schreiben antrieb.

Erschreckt schützt und bedeckt sich der nackte Mann mit der Schreibmaschine. In ordentlichem Anzug und mit Krawatte beobachtet er seine Geschöpfe. Der Sohn Carlo rollt seinen Fußball aus dem glitzernden Altargehäuse heraus, sein fetter Vater vereinnahmt ihn, indem er ihn in den eigenen, viel zu großen Anzug schlingt. Gefangennahme in der falschen Haut: Nur durch gewaltsame Zweiteilung kann der Sohn überleben.

Der eine Carlo wird für die Ausübung von Macht zugerichtet, der andere, besessen von seiner Mutter und dem Begehren für sie, wickelt seinen Unterleib mit Klebeband ein. Roland Renner als Carlo zwei spielt die Verzweiflung ebenso kitschig und komisch wie seine phallischen Attacken auf Mutter und Großmutter – und enttäuscht alle Hoffnungen auf ein schwules Opferdrama. Ein weißer Engel mit Flügelarmen und der Teufel als schwarzgewandete Domina kämpfen um die Körper beider Männer, um sie immer wieder in die Aufmärsche klerikal verbrämter Macht zu entlassen. Pasolini, der Provokateur: Den Schleim, den die Reichen auf ihn spucken, schmiert er ihnen ins Gesicht.

Chorknaben mit nackten Hintern unter schwarzen Spitzenhemdchen flankieren die Rituale, und der Weihrauchdunst trägt zum intensiveren Erleben bei. Dennoch: Pasolinis Angriff auf den Konsumismus und seine Verklärung besitzloser Vorstadtjungen sind in dieser Inszenierung ironisch gebrochen. Pasolini, der Revolutionär, der Katholik, der Suchende: Hans Kresnik hebt ihn von den Exzessen der Körper ab und beschränkt die Einbrüche unserer Gegenwart auf das Absingen kitschiger Schlager (Musik: Livio Tragtenberg). Er läßt ihn das Scheitern seiner Romanfiguren betrachten: die sinnlose Kreisbewegung einer Vater-Sohn-Beziehung im Zentrum der Macht, die Schändung einer Blondine mittels einer Spaghettimahlzeit, der unfruchtbare Liebestraum des schwachen Carlo.

Der Provokateur Kresnik kommt seinem Pasolini sehr nahe, weil er um die Begrenztheit aller Provokationen mehr weiß, als man nach seinen letzten Produktionen vermuten mochte. Der Dichter malt dem schwachen Carlo Wörter auf die Haut: Einsamkeit, Scham, Verzweiflung. Alle Manuskripte sind geschrieben, alle Blätter verbraucht, die menschliche Haut wird letzte, verletzliche Botschaft. Der andere Carlo wischt die Schrift wieder herunter bis Blut fließt: Kein Wort bleibt.

Mit immer leiser werdender Stimme rezitiert er Pasolinis große Vision von den Millionen „auf den Schiffen aus dem Reich des Hungers, mit kleinen Körpern und armen Hundeaugen der Väter“, Millionen, die an Europas Küsten landen werden. Kein „Held in seinem Schmerz“, wie er sich selbst nannte, sondern ein Dichter, dessen Kunst sich an den Grenzen seines Körpers entzündete und der starb, weil er sie nicht ertrug. Weil Kresniks Theater das in seinen Bildern aufspürt, ist sein zweiter Pasolini (nach der Heidelberger Annäherung) mehr als eine theatralische Hommage an einen politischen Dichter, und zugleich befreit er den politischen Theatermacher – zumindest dieses Mal – vom Zwang zu permanent wütender Agitation. Auf eigentümliche Weise bestätigen die Fotos, die Dino Pedriali von Pasolini wenige Tage vor seinem Tode machte, Kresniks hellsichtige Inszenierung, und das Schauspielhaus zeigt dieses „Testamento del Corpo“ im Foyer. Pasolini nackt, schon sehr weit entfernt, fast undeutlich: Sein Körper scheint wie auf einem Sarkophag zu ruhen. Sein Blick ist jenseits seines Körpers, voller Abstand. „Ich soll skandalös sein“, sagte er dem Fotografen, „diesmal bin ich es ganz konsequent.“ Doch der Zwang zum Skandal war längst verbraucht, und statt der Provokation bleiben Würde und Trauer, „ganz anders als das, was er sich vorgestellt hat“ (Pasolini in seinem Brief an Moravia). Lore Kleinert

„Pasolini. Testament des Körpers“. Nächste Aufführungen am 2., 3. und 16. Mai