„Die Ideologie der freien Wahl“

■ Für den Tübinger Ethik-Professor Dietmar Mieth steht hinter der neuen Bioethik ein egoistisches Menschenbild

taz: Versuche an geistig Behinderten, die selbst keine Einwilligung geben können und von denen sie auch keinen Vorteil haben, sind der wichtigste Streitpunkt in der Debatte um die Bioethik-Konvention des Europarates. Wie sehen Sie die Problematik dieser sogenannten fremdnützigen Menschenversuche?

Dietmar Mieth: Dazu gibt es heute einen grundlegenden Konsens. Dazu gehört der „informed consent“, also die freie Zustimmung der betroffenen Personen, und zweitens eine im medizinischen Sinne erträgliche Belastung der Versuchsperson, das heißt, die Menschen sollen nicht krank davon werden. Umstritten sind nun die Fälle, wo eine solche Zustimmung nicht gegeben werden kann. Im Falle der geistigen Behinderung meinen die Kritiker der derzeitigen Bioethik-Konvention, daß auf Versuche gänzlich verzichtet werden sollte. Bei Kindern wird zumeist die stellvertretende Einwilligung der Eltern oder gesetzlichen Vertreter akzeptiert. Ein Problem sehen nun aber manche bei Krankheiten, die eine freie Zustimmung nicht zulassen, wie bei Alzheimer. Auch hier gilt, daß neue Erkenntnisse nur gewonnen werden können, wenn man diese Patienten auch beforschen darf, und zwar auch dann, wenn nicht sie selbst, sondern künftige Patienten einen Nutzen davon haben. Dies wären dann fremdnützige Eingriffe ohne Einwilligung der Betroffenen. Man muß sagen, daß dieses ohnehin schon geschieht. Deswegen setzt sich auch die Bundesärztekammer dafür ein, daß die Konvention in dieser Frage eine Regelung vorsieht, welche die bisherigen Praktiken abdeckt.

Und wie sehen Sie das?

Ich bin dagegen, daß man solche Versuchsreihen macht, denn man öffnet hier eine Tür auch für andere Gruppen von Krankheiten. Ein Kompromiß könnte darin bestehen, daß man die ersatzweise Einwilligung an Bedingungen knüpft, daß ein Vorteil für eine Versuchsperson selbst oder wenigsten für die Gruppe der Alzheimer-Patienten als solche zu erwarten sein muß. Das muß in den bevorstehenden Verhandlungen noch geklärt werden.

Historisch ist die Unterscheidung zwischen fremd- und eigennützigen Versuchen ein Produkt der Nachkriegszeit. Im Nürnberger Kodex ist davon noch nicht die Rede. Trifft es zu, daß man sich zum fünfzigsten Jubiläum der Nürnberger Ärzteprozesse wieder auf den Kodex besinnt und die Unterscheidung zwischen Heilversuch und wissenschaftlichem Experiment in Frage stellt?

Richtig, so ist es. Allerdings muß ich dazu vorweg anmerken, daß ich nicht gern von einer Bioethik-Konvention spreche. Denn es handelt sich nicht um Ethik in unserem europäischen Verständnis, sondern eher um Verhaltensregulierungen im amerikanischen Sinne, eine Art vorrechtliches Rahmenwerk. Und dann müßte man in dieser Konvention den Nürnberger und die nachfolgenden Kodizes von Helsinki und Tokio zitieren und sich dadurch in die Kontinuität dazu stellen. Mich überrascht eigentlich sehr, daß man das nicht getan hat. Indem man den Nürnberger Kodex nicht zitiert, unterläuft man ihn auch. Auf der anderen Seite scheint es bei der modernen Biomedizin tatsächlich immer schwieriger zu sein, zwischen klinischem Heilversuch und rein wissenschaftlichem Experiment zu unterscheiden, weil Grundlagenforschung und klinische Anwendung sich inzwischen eng verzahnt haben. Es wäre sinnvoll, über diese Veränderungen Expertisen einzuholen, bevor man die Konvention verabschiedet.

Wo sehen Sie nun einen möglichen Kompromiß?

Also nehmen wir wieder das Beispiel Alzheimer. Versuche an diesen Patienten dürfen nur vorgenommen werden, um etwas über die Krankheit zu erfahren, nicht für beliebige andere Zwecke. Denn nur so besteht zumindest die Möglichkeit, daß im Falle von positiven Ergebnissen die davon Betroffenen auch selber profitieren können. Damit würde die Grenze zwischen fremd- und eigennützig in den Versuchen offengehalten. Das ist vermutlich der Verständigungsweg, der eingeschlagen wird.

Wird damit nicht ein universeller Anspruch der Versuche aufgegeben?

Ja, der universalistische Begriff des wissenschaftlichen Versuchs steht damit für die Biomedizin in Frage.

Wird nicht auch der angloamerikanische Autonomiebegriff von Minderheiten kritisiert, weil er sich am Idealbild eines weißen männlichen Amerikaners der Mittelschicht orientiere, dem sich andere gesellschaftliche Gruppen zu unterwerfen hätten?

Sicher ist, daß eine stärker familienorientierte Konzeption, wie man sie beispielsweise in lateinamerikanischen und afrikanischen Traditionen kennt, sich im Konflikt befindet mit den amerikanischen Ethikregeln. Wir haben das in Tübingen beispielhaft für Brasilien in einer Dissertation untersucht. Da ging es um die Einwilligung von Frauen zum Kaiserschnitt oder zur Sterilisierung. Das ist in Lateinamerika ein Problem, wo der Familienrat – mit den gefährlichen Hierarchien, die es dort gibt – entscheidet. Die brasilianische Ärztin, die das Thema bearbeitet hat, empfand die individualisierte freie Wahl als kulturelle Überfremdung. Sie hatte große Probleme, die Autonomie ihrer Kultur mit der persönlichen Autonomie der freien Wahl in Zusammenhang zu bringen. Dabei entstehen Konflikte, wo man nicht einfach sagen kann: Die einen haben recht und die anderen haben unrecht. Hinter der Garantie des „persuit of happiness“ in der amerikanischen Verfassung steht ja ein Mensch, der schon jenes Maß an Freiheit erreicht hat, daß ihm solche Optionen zur Verfügung stehen. Das trifft aber noch lange nicht auf alle zu. Freiheit hat ja für viele Leute noch die Bedeutung von einer vor uns liegenden Befreiung, und sie ist nicht einfach etwas Abrufbares. Und insofern ist die Voraussetzung, die bei der Ethik der freien Wahl gemacht wird, relativ abstrakt.

Werden in der europäischen Debatte auch kulturelle oder religiöse Minderheiten berücksichtigt, bei denen die Familie eine ganz andere Rolle spielt als in den westlichen Gesellschaften?

Das ist noch ziemlich tabu, denn das individualistische Menschenbild geht davon aus, Familie ist soviel wert wie das Glück der jeweils beteiligten Einzelnen. Das Gegenstück dazu: Außereuropäische Kulturen mit ihrer familiären Solidarität betonen das Glück des beteiligten Anderen. Das ist ein riesiger Unterschied. In unserer Gesellschaft sind solche Werte durch den Siegeszug des Individuums an den Rand gedrängt worden.

Würden Sie denn sagen, daß diese Triebfedern des Individualismus die moderne Biomedizin ebenso vorantreiben wie Wissenschaft und Industrie?

Ja, denn die Gesellschaft hat die Forschung, die sie verdient. Mit anderen Worten, das Bewußtsein treibt sich in den Strukturen um, und deswegen läuft es so. Wenn wir alle laut sagen würden, daß die Biomedizin unserer normalen Alltagsmentalität widerspricht, dann würde das alles nicht passieren.

Hinkt das gesellschaftliche Bewußtsein der Biomedizin hinterher?

Ja sicher. Uns fehlt Reflexionszeit, um die gesellschaftliche Auseinandersetzung zu führen. Das steht auch in einem weiteren Kontext beispielsweise in Amerika. Bei der Auseinandersetzung um Liberalismus und Kommunitarismus geht es ja auch um die Ideologie der freien Wahl, also um den Konflikt zwischen Individualismus und einem gemeinschaftsorientierten Menschenbild. Zweifellos ist bei dem, was derzeit unter dem Begriff Bioethik propagiert wird, ein egoistisches Menschenbild führend. Interview: Friedrich Hansen