■ Die Berliner Erotikmesse setzt auf Kunsthandwerk
: Und ewig lockt das Trabrennpferd

Wer „Erotikmesse“ hört, denkt natürlich gleich an Pornographie. Aber nichts da! Die Pornomesse ist in Köln, auf der „Eurotica“ in Berlin dagegen will man „trendy, sinnlich, jung, verspielt“ sein. Die „Sinnlichkeit“ soll im Vordergrund stehen, nicht das Rammeln. Und vor allem viel Kunst soll es geben. Die Messe besteht zu 50 Prozent aus Kunst, und in den kommenden Jahren sollen es bis zu 70 Prozent werden! Während die „echten“ Künstler, wenn sie trendy sind, mit Vorliebe Pornohefte plündern und die ausgeschnittenen Bilder zum Beispiel auf Steine kleben, die sie dann vor das Brandenburger Tor legen und abfotografieren, versuchen sich die Wichsvorlagenlieferanten nunmehr an gemäßigten Darstellungen. Der Inhalt ist allerdings der gleiche geblieben: entweder mehr oder weniger nackige Frauen in den bekannten Körperhaltungen und mit dem Gesichtsausdrücken, die man für die der Erregung hält, oder Phalli. Ist zwar hart dran am Porno, ist aber Kunst gemäß der Definition: Kunst ist, wenn man mit Öl auf Leinwand malt oder Bronze in eine Form gießt und dann poliert. Was auf diese Weise entsteht, nennt man Kitsch. Besonders schöne Kunst dieser Art macht der belgische Bildhauer, der auch nach Vorlage arbeitet und dabei zum Beispiel einen teekannenähnlichen Gegenstand mit einem Pimmel als Henkel schafft, aus Terrakotta, „damit Fälschungen ausgeschlossen werden“. Eine Ungarin macht Plüschpimmel und -mösen, der Franzose hingegen möchte das Bordell wiederbeleben und malt dafür lebensgroß Nutten auf dünne Schaumstoffplatten, die er dann an den Konturen ausschneidet. Ja, der Franzmann! Ja, das ist Erodick! Ja, das ist Senilichkeit!

Die Veranstalter haben sich wirklich Mühe gegeben. Jung und verspielt, wie sie sind, haben sie nicht nur einen schwulen Buchverlag eingeladen, sondern auch einen Aidshilfeverein. Der muß keine Standgebühren zahlen. Das begründen sie so: „Damit aus Spaß nicht bitterer Ernst wird.“ Der Spaß findet an den anderen Ständen statt. Spaß sind abstrahierte bunte Phalli, die man „Erotic Toys“ nennt. Spaß ist „Sexuallockstoff“: Lederparfüm mit Hormonen, Gold und Mineralien. Zur Steigerung der sexuellen Anziehungskraft auf Frauen & Männer. Die Hormone kommen von mindestens 100.000 Mark teuren Trabrennpferden! Die müssen dafür nicht einmal geschlachtet werden, sondern dürfen weiterleben und die Parfümwirkung testen! Echt geil. Spaß ist auch der „Partnerclub Palace“ in Berlin-Mahlsdorf, wo „Alles kann – nichts muß“. Sinnlichkeit ist die Tantramassage oder „the Jailhousefuck“, ein „Stahlbett im Gefängnisgitterdesign“ (Handschellen gibt es ab 25 Mark). Sinnlichkeit sind auch die Bühnenauftritte von Amateurstrippern, die am Ende gefährlich nach Aerobic aussehen. „Ist echt nicht leicht!“ ruft die muntere Nackttänzerin in den Saal, als die Musik ausfällt. Am meisten Spaß aber ist der Fernsehsessel, der einem den Rücken massiert. Der kann vor und nach der Sinnlichkeit in Anwendung kommen oder anstatt und ist in echt echt geil.

So deliriert der stinknormale Durchschnittswichser durch das Lichtenberger Congress-Center, übersieht diskret den Hinweis „Verkauf von Jugendweihe-Videos“ und wünscht sich für seine 20 bis 35 Mark Eintritt nur eins: Ertrinken, versinken in dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, in des Weltatems wehendem All – unbewußt – höchste Lust!

Na, dann woll'n wir mal. Iris Hanika

Noch bis zum 5. Mai 1996, von 10 bis 22 Uhr, Lichtenberger Congress-Center, Normannenstraße 22, Berlin-Lichtenberg