Abschied von der Übersichtlichkeit

Behüteter kleiner Junge, schmutziger alter Mann – Emmanuel Carrère und Rafael Chirbes erzählen davon, wie wir uns unsere Wirklichkeit konstruieren  ■ Von Walter van Rossum

Wie zerrüttet man eine Person? Ganz einfach: Alle vertrauten Bezugspersonen eines Menschen müssen nur leugnen, jene vertrauten Bezugspersonen zu sein. Also: Meine Zeitungshändlerin verweigert mir morgens das vertraute Du; mein Redakteur hat mich noch nie gesehen; meine Freundin beschuldigt mich des Eindringens in ihre Wohnung. Je nachdem, welche verläßlichen Pfeiler des Selbst ich in mir errichtet habe, breche ich entweder nach einer Viertelstunde zusammen, oder ich habe noch ein paar Stündchen als „Ich“ mit mir. Man möchte den französischen Schriftsteller Emmanuel Carrère einen Romancier dieses Experiments nennen. Zumindest wenn man von den beiden Romanen ausgeht, die bislang von Carrère auf deutsch erschienen sind. 1986 ist der Roman „La Moustache – Der Schnurrbart“ im französischen Original erschienen und kurz darauf in deutscher Sprache. Ich war mir damals sicher, das Buch würde auch bei uns großen Erfolg haben, und habe dabei wohl die Neigung zur literarischen Folter diesseits des Rheins überschätzt. So nutze ich gerne die Gelegenheit, noch einmal an dieses unglaublich beunruhigende Buch zu erinnern.

Es erzählt von nichts anderem als von einem Mann, dem seine Umgebung suggeriert, er habe noch nie einen Schnäuzer getragen, während der Mann steif und fest behauptet, seinen Schnurrbart erst heute morgen abrasiert zu haben. Und so hängt sein Leben bald an den unauffindbaren Borsten eines Schnäuzers, und der Leser weiß nicht mehr, ob er sich noch die eigenen Haare rauft.

Emmanuel Carrères letzter Roman, der soeben auf deutsch erschienen ist, verbreitet dagegen – zumindest anfangs – Kaminfeueratmosphäre, aber es wird bald kühler, und schließlich befindet sich der junge Held mitten im „Schneetreiben“ einer undurchsichtigen Wirklichkeit. Der zehnjährige Nicolas ist ein unauffälliger Außenseiter: Als Sohn überängstlicher Eltern wird er zum Opfer gängelnder Fürsorge und von seinen Schulkameraden als Muttersöhnchen verspottet. Entweder findet oder erfindet so ein blasser Außenseiter eine Geschichte, die seine Isolation in Erhabenheit verwandelt, oder er wird, was mit ihm und der Welt geschieht, immer nur sehr verschwommen erleben. Er hat einfach keine brauchbare Perspektive auf die Dinge.

Was ist wirklich?

Das wird noch problematischer, als Nicolas aus seinem gewohnten Trott gerissen wird, zum Beispiel auf dem Klassenausflug in die verschneiten Berge. Natürlich mußte ihn sein Vater eigens mit dem Auto bringen, während die anderen mit dem Schulbus fahren durften. Aber dann geschehen einige unerwartete Dinge. Der Vater vergißt Nicolas' Koffer im Auto. Nicolas faßt spontanes Vertrauen in die unkomplizierte und lebenssichere Art des jungen Lehrers. Und zur Überraschung aller stellt der stärkste und gefürchtetste Mitschüler Nicolas unter seinen persönlichen Schutz. Das alles reicht schon, um bei dem Kleinen Euphorie und Irritation zugleich zu erzeugen. Für jemanden, der keine zuverlässigen Erfahrungen damit hat, wie die Welt läuft und wie man sich in ihren Lauf einmischen kann, eine gefahrenträchtige Situation.

Die Lage spitzt sich zu, als bekannt wird, daß in der Gegend ein kleiner Junge vermißt wird. Nicolas übernimmt die Ermittlungen. Aber wir ahnen, daß das unsichere Kind kein realistischer Spurenleser sein kann. Er verwickelt sich in eine Phantasie, die sich wiederum mit der Realität vermischt. Am Ende wird das Schlimmste wahr. Aber von diesem Ende erzählen wir hier nichts, denn Emmanuel Carrères Roman ist auch ein Krimi. Und wie bei jedem Krimi geht es um die Infragestellung und Überprüfung dessen, was wir für wirklich halten.

Im Roman „Der Schuß des Jägers“ des Spaniers Rafael Chirbes ist es ein alter Mann, dem die Welt entrückt ist und der auf dem Meer seiner Erinnerungen treibt und nach seinem Lebenstext sucht. Es werden nicht mehr als 117 Seiten! Erinnerungen, so klar und vieldeutig, so verschlungen wie übersichtlich, daß wir uns Tausende von Szenen und Momenten, die der Roman nicht einmal streift, klar vorstellen können. Wir tauchen in eine Welt ein, wir betreten ein Leben, aber wir bewegen uns dabei nicht nur in den Räumen des Vergangenen, sondern wir nehmen auch teil am Prozeß des Erinnerns selbst – an der Politik des Erinnerns, die nur zögernd verschattete Geschichten und verschüttete Blicke freigibt. „Die Erinnerung kehrt zurück wie ein Feind, den man nie besiegt“, heißt es in den Aufzeichnungen des alten Mannes. Die Erinnerungen führen ihn, wohin sie wollen. Sie führen ihn an die Bruchstellen seines Lebens, sie spüren das Versäumte auf, sie entdecken, daß er nicht ein, sondern mehrere Leben gelebt hat. Die Erinnerung entdeckt die Gegenbilder „zu einer stabilen, starken Präsenz, an der die anderen ohne eine Spur von Zweifel Halt finden konnten“.

Es gibt mindestens noch eine andere Geschichte unter der Geschichte vom unaufhaltsamen Aufstieg eines provinziellen Lehrlings zum mächtigen und reichen Bauunternehmer in den vierziger und fünfziger Jahren des franquistischen Spaniens.

Unter der Geschichte

Es gibt da noch die Geschichte vom erfolgreichen Mann, der nie angekommen ist; der zum Beispiel nicht in der Klasse seiner großbürgerlichen und mondänen Frau angekommen ist. Es gibt unter der Geschichte seiner Liebe zu seiner Frau die Geschichte seiner Fremdheiten – die Kühle ihres marmornen Leibes und seine Freude an den vulgären und geilen Andachten des Fleisches, seine Geliebten und die Ahnung, daß auch seine Frau anderswo anders liebt. Es gibt das dunkle Gespür, daß „das Bild der stabilen, starken Präsenz“ nur sein Selbstportrait war, daß aber Frau und Kinder die Risse durch seine Person sehr genau wahrgenommen und mit edler Verachtung übergangen haben.

Das neue Licht auf die Dinge, das die Erinnerung da in sein Bewußtsein dringen läßt, ist aber kein hartes Verhörlicht. Der alte Mann fürchtet die Wahrheit nicht. Oder sagen wir: nur ein bißchen. Am Ende erlaubt ihm gerade die Klarheit, die Gestalten seines Lebens noch einmal zu schmecken. Da spielt die Bitterkeit kaum eine Rolle, nur die Berührung selbst.

Rafael Chirbes beherrscht meisterhaft eine Technik, die zwischen der Ausdeutung eines Details und der Andeutung umfangreicher Zusammenhänge changiert. Und doch könnte mir die hohe literarische Kunst gestohlen bleiben, formulierte sie nicht genau die Frage, die dem Buch seine feine Spannung gibt: Wo steckt eigentlich das Leben, das wir leben? In unseren Handlungen, in unseren Träumen, im Geräusch von rollendem Kies am Mittelmeer, in den Überzeugungen oder in den Abzweigungen, die wir heimlich nehmen? Oder nehmen die uns?

Die Erinnerungen des alten Mannes erstrecken sich hauptsächlich auf die Zeit nach dem spanischen Bürgerkrieg bis in die späten siebziger Jahre, die Jahre kurz nach Francos Tod. Dann, so ahnen wir, geht seine Welt unter. Wirbelstürme der Modernisierung fegen durchs Land. Chirbes gelingt ein bestechendes, genaues Portrait der Stimmung einer bestimmten Schicht im Spanien jener Jahre. Und natürlich waren die Lebenslügen des alten Mannes auch die Lebenslügen seiner Gesellschaft. Aber man muß kein Spanienkenner sein, um die Physiognomie einer Weltanschauung in diesem Buch zu verstehen. Sie läßt sich auf unsere Verhältnisse übertragen: Es geht um den Abschied von einer Zeit, wo bestimmte Männer sich gerne als Herren vorstellten – und es dadurch wurden. Es geht um den Abschied von einer übersichtlichen Klassengesellschaft, wo die Kostüme bourgeoiser Herrschaftlichkeit „erwirtschaftet“ werden konnten, ihre Träger noch trugen und die Blößen ihrer Ungeborgenheiten überdeckten.

Obwohl ich den Hang des Rezensenten zu Proklamation und Prämierung hasse, mache ich hier eine Ausnahme: Rafael Chirbes' Roman „Der Schuß des Jägers“ ist das schönste Buch, das ich in letzter Zeit gelesen habe.

Emmanuel Carrère: „Schneetreiben“. Roman. Aus dem Französischen von Lis Künzli. Berlin Verlag, 170 Seiten, geb., 34 DM

Rafael Chirbes: „Der Schuß des Jägers“. Roman. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Verlag Antje Kunstmann, 117 Seiten, geb., 29,80 DM