"Der Fehler, an die Vernunft zu glauben"

■ Der "Roman eines Schicksalslosen" von Imre Kertesz, die Geschichte eines 15jährigen in Auschwitz, erscheint jetzt auf deutsch. Kertesz, der sich nicht als Opfer sehen will, erzählt von DDR-Reisen u

taz: Es ist eine heikles Unternehmen, mit Ihnen ein Interview zu machen: Ihre Bücher sind so klar. Man muß aufpassen, daß man das nicht nachträglich verwischt.

Imre Kertész: Ja, Sie können fragen, ich kann mich wiederholen, aber es wird schlechter, als ich es geschrieben habe.

Deshalb will ich mich mit meinen Fragen mehr auf das Biographische beziehen. Sie haben einmal gesagt, der wirkliche Bruch in Ihrem Leben kam erst nach der Befreiung aus dem KZ, in das sie als Fünfzehnjähriger verschleppt worden waren. Bis dahin folgte alles einer gewissen Logik.

Diese Logik habe ich im „Roman eines Schicksallosen“ beschrieben. Ob ich das ganz ernst gemeint habe, das weiß ich nicht. Als ich im Krankenzimmer in Buchenwald lag, ich glaube, es war der 12. April 1945, habe ich eine Sendung der BBC gehört, in der berichtet wurde, daß die alliierten Truppen gestern ein Konzentrationslager namens Buchenwald bei Weimar befreit hätten. Da habe ich zum ersten Mal daran gedacht, daß mir eine Ungerechtigkeit geschehen ist, daß ich in der Perspektive der anderen Logik so etwas wie ein Opfer bin.

Haben Sie aus Ihrer Kindheit ein Bild von bürgerlicher Normalität mitbekommen?

Nein, das nicht. Aber ich habe natürlich versucht, immer normal zu denken. Als Kind war ich ein Zeitungsleser, schon als Zehnjähriger habe ich Zeitungen gelesen. Was ich nie vergessen werde: Am 6. Juni 1944 bin ich mit einem gelben Stern an der Kleidung auf der Straße gewesen. Von überall schrien die Zeitungsjungen: „Die Invasion hat begonnen, die Invasion hat begonnen.“ Ich habe eine Zeitung gekauft, das Blatt aufgeschlagen und mit einem großen Lächeln gelesen, daß die alliierten Truppen in der Normandie gelandet sind. Das war wirklich lustig. Danach erinnerte ich mich, daß ich auf meiner Brust einen gelben Stern hatte.

Wissen Sie noch, was Sie damals über die Deutschen gedacht haben?

Es gab natürlich Klischeevorstellungen. Der größte Fehler in unserer Denkweise damals, glaube ich, war eine gewisse Rationalität. Man hat an die Rationalität geglaubt – das ist eine jüdische Sache. Wissen Sie, dieses Leben damals war ganz irrational, und doch hatte man gedacht, im Hintergrund würde die Vernunft wirken. In Budapest gab es phantastische Gerüchte von Geheimverhandlungen, die das Schlimmste verhindern würden. Daran zu glauben war ein Verhängnis für viele Leute.

Haben Sie während der Zeit im Lager geistigen Rückhalt in der Religion gesucht?

Ich selber hatte nichts mit Religion zu tun. Das war für mich als Kind so eine Art von Spiel gewesen, das ich nicht verstanden habe. Meine Eltern gingen manchmal freitags in die Synagoge, aber ganz, ganz selten. Sie waren völlig assimiliert. Das war kein echter jüdischer Hintergrund.

Worüber haben Sie geschrieben, als Sie nach der Befreiung aus dem KZ in Ungarn als Journalist arbeiteten?

Ich habe Feuilletonartikel geschrieben, Reportagen, eigentlich nichts. 1947 bin ich ungefähr sechs oder acht Monate lang Sozialist gewesen. Ich habe geglaubt, in Ungarn könnte es einen sozialistischen Rechtsstaat geben. Dann später, als die kommunistische Wende kam, war ich schon bei einer Zeitung. Ich konnte und wollte nicht weg von dort, aber ich wollte auch nicht mitmachen. Ich hatte dann 1950 das große Glück gehabt, einfach hinausgeschmissen zu werden. Es passierte nichts weiter, außer daß ich keine intellektuelle Arbeit mehr bekommen konnte. Ich mußte in einer Fabrik arbeiten.

Was haben Sie da gemacht?

Schlosserarbeiten, ich war in einer Maschinenschlosserei und mußte ein großes Stück Eisen feilen. Dann hat man mich gerettet: Ein Freund hat mir eine Stelle in der Presseabteilung des Schwerindustrieministeriums vermittelt. Das konnte ich auch nicht machen. Ich habe mich bald davon gelöst. Man hat mich nicht gebraucht, und ich war glücklich, wieder frei zu sein. Dann habe ich angefangen, Hörspiele und Lustspiele zu schreiben.

Lustspiele?

Ja, das war eine große Sache, so mußte ich keine Arbeitsstelle haben. Ich konnte eigentlich auch keine Lustspiele schreiben, das hat mich angewidert. Aber ich hatte einen Freund, der mir geholfen hat, die Handlung zu entwickeln. Ich schrieb nur die Dialoge. Damit konnte man ganz gut verdienen. Daneben konnte ich meinen Roman schreiben. Alle meine Freunde hatten darüber gelacht, was ich da seit Jahren zu Hause mache. Was ist das denn, wo ist dieser Roman überhaupt?

Nach Westdeutschland konnten Sie nicht reisen. Wie haben Sie Ihre Reisen in die DDR erlebt?

Das erste Mal bin ich, ich glaube, 1962 in die DDR gefahren. Das ganze Land war leer und angenehm, und es gab eine Generation, die traurig und sehr höflich war. Das nächste Mal, als ich in der DDR war, 1980, gab es dort viele grobe Leute. Das war ein ganz anderes Land, ich habe es kaum wiedererkannt.

Im Klappentext des „Roman eines Schicksallosen“ wird die Perspektive des jugendlichen Helden mit der eines Parzival verglichen. Ich finde den Vergleich nicht ganz treffend, da die Naivität Ihres Helden nicht so viel mit seiner Jugend zu tun hat, sondern eher eine generelle Weltsicht verkörpert, die mit allen scheinbaren Gewißheiten bricht. Gerade das hat man Ihnen zum Vorwurf gemacht, früher in Ungarn, un man hört es auch heute noch.

Ich habe die Infantilität ganz bewußt so geschildert, eine Infantilität, die nicht so sehr Parzival ähnelt, als vielmehr von der Macht geprägt ist. Dafür habe ich eine typische Figur gewählt. Es wird in dem Roman nur ein Teil des Menschen betrachtet, nämlich der Teil, der sich mit der Macht reibt. Die totalitäre Macht macht den Menschen infantil, weil er verstümmelt ist. Der Mensch hat nur die Wahl, sich besser oder schlechter in diese Maschinerie einzupassen. Was die Vorwürfe betrifft: In Ungarn wollte man meinen Roman einfach nicht haben. Der Tonfall hat sie verletzt, weil der Roman diese obligatorische Moralität vermieden hat und weil er nicht sentimental ist. Die jüdischen Leute in Ungarn haben ihr Judentum strikt verleugnet, aber sie erwarteten von anderen, daß sie die Bücher von Herzen schreiben, so daß sie insgeheim zu Hause weinen können. So habe ich nicht geschrieben, und vielleicht bin ich auch deshalb abgelehnt worden.

Melden Sie sich heute in der ungarischen Öffentlichkeit zu Wort?

Einmal, kurz nach der Wende, habe ich gegen einen sogenannten Dichter protestiert, den Vizepräsidenten des Schriftstellerverbandes, der sich antisemitisch offenbart hatte. Ich habe einen Artikel geschrieben, der ein großes Echo fand. Aber so tief sinken werde ich niemals wieder. Das war der eine Moment, in dem ich glaubte, es würde etwas passieren – aber es ist nicht passiert. Ich will so wenig wie möglich mit Politik zu tun haben. Ich bin eigentlich Künstler, das bedeutet nicht, daß ich apolitisch bin, im Gegenteil, aber mein Handlungsraum ist nicht die Politik. Das betrifft auch meinen Roman: Viele wollten in dem Buch das Zeitalter verurteilt sehen. Es ist schon verurteilt worden, man muß dazu nicht viel sagen. Ich habe gesehen, wie schwer es war, mit meinen Mitteln, mit einer linearen Handlungsführung, mit einer Sprache, die überhaupt nicht spektakulär ist, zur Geltung zu kommen. Eine klare Darstellung ist für mich wichtiger als die Ideologie. Interview: Peter Walther

Siehe auch die Besprechung von „Roman eines Schicksalslosen“ in der heutigen Literataz, Seite 16