Krankheit als Verbrechen

■ Neue Strafkataloge aus dem Bonner Tollhaus

Selbst frömmste Katholiken werden umdenken müssen. Vorbei die Zeiten, wo jedes Zipperlein und körperliche Gebrechen als göttliche Vergeltung für das Laster galten. Christdemokratische Sparpolitiker wissen es besser: Krankheit ist nicht die Strafe für Sünden, sondern die Sünde selbst – ein heimtückisches Vergehen, das vor allem in seinem Anfangsstadium mißtrauisch beäugt, überwacht, geahndet werden muß. In Bonn bald kein Fall mehr für das Gesundheits-, sondern das Justizministerium.

Fast jeden Tag dringt ein neuer Strafkatalog aus dem Tollhaus am Rhein: Kuren nur noch maximal drei Wochen – jeder erfahrene Mediziner weiß, daß man unter diesen Zeitvorgaben das Wassertreten oder Heilfasten auch ganz seinlassen kann. Diätkurse, Rückengymnastik, Antistreßtraining – alles Schnickschnack! Weg damit aus dem Kassenangebot; erst wenn ein teurer Bypass fällig ist oder eine aufwendige Bandscheibenoperation, zahlt die Krankenversicherung wieder. Entzug der Krankschreibeberechtigung für Ärzte, die überdurchschnittlich häufig krank schreiben. Warum nicht gleich ein temporäres Berufsverbot für diese Komplizen der Blaumacher, die Schmieresteher im weißen Kittel?

Man könnte diese Vorschläge als gesundheitspolitische Gehirnerschütterung belächeln. Aber die Bonner Sparideen sind ernst gemeint, und sie zielen nicht nur aufs Geld. Sie signalisieren auch den Rückfall in ein antiquiertes Verständnis von Krankheit, das längst überwunden schien: Krankheit als abruptes Ereignis ohne gesellschaftliche Ursachen und individuelle Entstehungsgeschichte, durch keinerlei Prävention vermeidbar, schuldhaft verursacht wie ein Autounfall.

Jahrelang hat eine Bewegung aus Medizinern, Soziologen und Alternativtherapeuten für ein anderes, ganzheitliches Verständnis von Krankheit gekämpft. Jetzt macht die alte Pfründewirtschaft des eigenen Berufsstands diese Bewegung seltsam mundtot. Wer immer die Bonner Sparpläne als unsozial und ungesund kritisiert, steht in Verdacht, einzig das eigene Bankkonto sanieren zu wollen. Doch nur, weil Heerscharen in weißen Kitteln jahrzehntelang kräftig abkassierten, muß nicht die gesamte Ärzteschaft im Glashaus sitzen, aus dem kein einziger Stein geworfen werden darf. Vera Gaserow