Sebastian aus Sindelfingen meets RAF

Sie reden vom Scheitern der Stadtguerilla und von den Skrupeln, Menschen zu liquidieren. Ulrike Meinhofs Freundinnen und Genossen nutzen ihren 20. Todestag zu einem öffentlichen Gespräch  ■ Aus Berlin Bascha Mika

Er ist 17, hat muntere Augen und ein flinkes Mundwerk. Gleich in der Bahnhofshalle stürzt er sich auf den erstbesten Passanten. Das Audimax der TU – wo ist denn das? Die schwarzen Haare steil im Wind, den roten Rucksack geschultert, stürmt er los. „Ist doch irgendwie Wahnsinn“, seufzt er während der zwei Kilometer Fußweg zufrieden, „da komm' ich aus meiner kleinbürgerlichen Welt, wo alles so geklärt ist, und hier, da trittst du überall auf die Geschichte der Studentenbewegung.“

Im Februar 1968 drängten Studenten und APO-Aktivisten zu Tausenden zum „Internationalen Vietnam Kongreß“ an die Technische Universität Berlin. Heute bahnt sich Sebastian aus Sindelfingen den Weg über die häßlichen Fliesen zum Audimax. Mit ihm 1.999 andere. Wieder ein historisches Datum. Eine Veranstaltung zum 20. Todestag von Ulrike Meinhof, Mitgründerin der „Roten Armee Fraktion“. Sebastian rechnet: „Ich beschäftige mich mit ihr seit ungefähr zwei Jahren. Meine Freunde sagen schon alle: Der liebt doch nur die Ulrike Meinhof.“

Von der Bühne lächelt die „Staatsfeindin Nr. 1“ auf den Jungen herab – eine schwarzweiß gepinselte Meinhof auf rotem Fahnengrund. Schön schaut sie aus, wie Rosa Luxemburg mit einem Schuß Ché Guevara. „Ich such' immer nach Leuten, die in der Nazizeit Widerstand geleistet hätten“, sagt Sebastian und schwärmt: „Genau so eine ist Ulrike Meinhof für mich. Eine echte Antifaschistin.“

Der Hörsaal füllt sich, Plätze gibt es schon lange nicht mehr, man hockt auf Bühne, Boden und Stufen, rempelt den Nachbarn zur Linken an, palavert mit dem zur Rechten, umarmt angereiste Bekannte, ein Baby brüllt, ein Flair wie in alten Bewegungstagen geistert kurz durch den Raum. Doch nur ein Drittel des Publikums hat die Aufbruchstimmung der 60er Jahre aktiv erlebt. Viele junge Leute, für die die RAF ein Kürzel im Geschichtsbuch ist, hat es hierhergetrieben. „Ulrike Meinhof“, bemerkt Sebastian altklug, „ist eben 'ne richtige Zugnummer.“

Jäh stockt das Geschiebe im Mittelgang. Ein kleiner Auflauf knäult sich zusammen. Mittendrin ein schmaler, dunkelhaariger Mann. Werner Lotze. Früher bei der RAF, dann Kronzeuge gegen seine ehemaligen Genossen. Einer der Ehemaligen steht ihm gegenüber. Groß, kräftig und ziemlich aggressiv. Karl-Heinz Dellwo. 22 Jahre Knast. „Du warst damals absolut geil darauf, in die RAF zu kommen“, faucht Dellwo, „dann hast du deine Geschichte verraten.“ Lotze schweigt. Dellwo: „Was willst du denn hier?“ Lotze: „Mich interessiert, wie diese Geschichte hier aufgearbeitet wird. Das ist mein gutes Recht!“ – „Wir wollen keine Verräter“, zischt einer der Männer um Dellwo. Da packt ein Begleiter von Lotze dessen Arm, drängt ihn raus aus dem Saal. Bloß keine Prügelei.

Karl-Heinz Dellwo gehört zu denen, die die Veranstaltung vorbereitet haben. Die meisten Organisatoren sind ehemalige Gefangene von der RAF. „Wir haben kein Problem mit Leuten, die sich politisch getrennt haben“, sagt er, „aber eine Grundbedingung der Bewegung, zu der wir gehören, ist, die Leute nicht zu verraten.“ Der Bewegung, zu der wir gehören, sagt er, nicht gehörten. „Lotze hat dafür gesorgt“, stellt Dellwo fest, „daß Genossen noch einmal lebenslänglich verurteilt wurden. Wenn er diskutieren will, soll er doch zur Bundesanwaltschaft gehen.“

Auf dem Podium erscheinen neun Leute. Unter ihnen eine Freundin von Ulrike Meinhof, ihr Verleger Klaus Wagenbach, der RAF-Anwalt Christian Ströbele und drei ehemalige Gefangene der RAF und ihrer Nachfolgeorganisation „Bewegung 2. Juni“. Auf den ersten Blick sehen die neun aus wie ein harmloser Diskutierverein, Durchschnittsalter um die Fünfzig. Doch da hocken Menschen zusammen, von denen einige zwanzig Jahre nicht miteinander geredet haben. Festgefressen und erstarrt in ihren politischen Animositäten. „Noch vor zwei Jahren“, bemerkt Dellwo lakonisch, „hätten sich die Leute auf dem Podium gehauen.“

Heute wollen sie reden. Und haben sich viel vorgenommen. An Ulrike Meinhof wollen sie „erinnern“, sie „nicht den Medien überlassen“. Ein Bild der deutschen Verhältnisse wollen sie beschwören, das in den 60er Jahren einen Teil der Linken in den bewaffneten Kampf trieb: „schweigende Elternhäuser im Wirtschaftswunderland, eine unbelehrbare Nazihorde und furchtbares Bürokratenpack“. Ihre eigene Geschichte wollen sie sich „wieder aneignen“, Gründe für den Niedergang der Linken suchen und neue Perspektiven entwickeln, damit der „Optimismus von damals wiederkehrt“.

Für all das bleiben ihnen drei Stunden. Mit schlecht funktionierenden Mikros und ruppigen ZuhörerInnen. „Wir waren fest überzeugt, daß es eine revolutionäre Situation in West-Berlin und der BRD gibt“, verkündet Christian Ströbele. „Lauter! Lauter!“ dröhnt es aus allen Ecken, das Baby brüllt wieder, der Altkommunarde Kunzelmann trillert wie besessen auf seiner Pfeife, der Ex-SDSler Rambausek fühlt sich wie früher und ruft lautstark dazwischen.

Wer war Ulrike Meinhof? „Mich kotzt es an“, sagt Ralf Reinders vom 2. Juni, einer der schärfsten Kritiker der RAF, „daß Ulrike vereinnahmt wird von Leuten, die die Geschichte neu schreiben wollen. Sie war eine Kommunistin! Aber sie steht da wie eine ausgeflippte bürgerliche Hausfrau.“ Kaum jemand kennt Meinhof besser als die Leute, die hier sitzen. Doch das Bild der Journalistin, die 1970 in den Untergrund ging, 1972 verhaftet und am 9. Mai 1976 erhängt in ihrer Zelle gefunden wurde, bleibt skizzenhaft. Grob hingestrichelt wie ihr Porträt auf der Fahne.

Es geht nicht mehr um sie. Es geht um zwei heiße Eisen des militanten Widerstands: um die Gretchenfragen nach der Gewalt und dem Scheitern der RAF. Und so unstrukturiert die Diskussion auch zu mäandern scheint, hier haben sich Leute zu einem öffentlichen Bekenntnis entschlossen. „Mit der Liquidation von Menschen muß man sehr skrupelvoll umgehen“, murmelt der ehemalige RAFler Ali Jansen ins Mikro. Da vergißt das Publikum für einen Moment seine Aufsässigkeit. Ralf Reinders, der 1976 die Flugzeugentführung nach Entebbe, mit der Genossen freigepreßt werden sollten, abgelehnt hatte: „Es kann und darf nicht sein, daß sich Leute, mit denen wir einen revolutionären Prozeß in Gang setzen wollen, von uns bedroht fühlen.“

Monika Berberich bleibt der entscheidende Part. Hastig spricht die Frau, die als Terroristin 18 Jahre in Haft saß, auf ihren Wangenknochen blühen rote Flecken. Sie begeht einen verabredeten Tabubruch. „Das Konzept der Stadtguerilla ist gescheitert“, gesteht sie lapidar. Nie hat ein Mitglied der RAF, das sich zu seiner Vergangenheit bekennt, dies öffentlich eingestanden. „Wir wollten, daß unser Konzept richtig ist. Der Tod von Ulrike hat uns Kritik noch erschwert. Kritik hätte auch bedeutet, eine Niederlage einzuräumen. Wir stehen zu unserer Geschichte, doch heute können wir das sagen.“

Ruhe im Saal. Dann Applaus, Pfiffe. Das Publikum meldet sich zu Wort. Argumentiert stramm kämpferisch. So vorsichtig die ehemals bewaffneten Kämpfer mit ihren Mythen abrechnen, so ungebrochen halten einige ZuhörerInnen die Fahne der Militanz hoch.

Aufgekratzt und zapplig verläßt der 17jährige Sebastian den Hörsaal. „Wahnsinn, Wahnsinn,“ brummelt er immer wieder. „Ich hatte so ein komisches Gefühl, die ganze Zeit“, erzählt er im Geschiebe und Gedränge, „einerseits war die Stimmung solidarisch und trotzdem so voller Gewalt.“ Draußen vor dem Gebäude schultert er seinen roten Rucksack und steuert den Weg zur Jugendherberge an. Dann bleibt er noch einmal stehen. „Meine Kindheitserinnerung an die Linken ist immer mit so einem Ekelgefühl verbunden. Ich hab' immer nur Schlechtes und Gewalttätiges über sie gehört. Dieser Ekel war auch heute abend noch da. Wie die so kühl über ,Liquidation‘ reden. Das übersteigt meine Vorstellungskraft. Ich bin doch Pazifist.“ Er seufzt laut. „Es war ein Wahnsinnsfehler, daß sich Ulrike Meinhof für die Gewalt entschieden hat.“