■ In Indien trauen die Wähler keiner Partei über den Weg
: Konfusion und Klarheit

Eine Regierung mit einem kommunistischen Premierminister? Oder die Machtübernahme durch eine rechtsnationalistische Hindu-Partei? Eine Königsmacherrolle für den eindeutigen Verlierer der Wahl? Oder Karriereende für den Architekten der Wirtschaftsreform? Die indischen Wahlen haben ein so konfuses Resultat hervorgebracht, daß alle diese Möglichkeiten eintreffen könnten. Nur eine Botschaft des Wählers war deutlich: Er traut keiner Partei über den Weg. Die Kongreßpartei wurde dabei am härtesten bestraft, weil Regierungsmacht und Korruption Hand in Hand gingen. Aber auch die Oppositionsparteien erhielten nur einen beschränkten Bonus, der keiner von ihnen erlauben wird, allein zu regieren.

In den Parteizentralen der Hauptstadt Neu-Delhi stecken die Strategen nun ihre Köpfe zusammen und schauen sich nach Partnern um, die ihre Partei über die parlamentarische Mehrheitsschwelle heben könnten. Sie sind ernüchtert genug, um darin nicht nur die Möglichkeit eines lukrativen Kuhhandels zu sehen, der den kleinen Partnern gegen den Preis der Parlamentsstimme den Zugang zu den Fleischtöpfen der Macht gibt. Die Botschaft des Wählers war laut und deutlich: Er will eine kompetente Regierung. Denn er weiß, was die Politiker oft vergessen – daß sich ein Land mit knapp einer Milliarde Menschen, von denen die Hälfte auf staatliche Wohlfahrt angewiesen ist, keine instabile Regierung leisten kann.

Indien hatte vor sechs Jahren das Schauspiel einer Koalition erlebt, die nur das Interesse am Machterhalt zusammenhielt. Diese Erfahrung und das zornige Votum des Wählers werden jede Partei mit Regierungsambitionen nun dazu zwingen, eine minimale Plattform gemeinsamer Prioritäten zu errichten. Dies wird die Regierungsbildung erschweren, aber es hat auch positive Aspekte: Die nationalistische Hindu-Partei BJP wird einige ihrer radikalen Forderungen beiseite legen müssen, will sie einen verläßlichen Partner finden. Und falls die Linke an die Regierung kommen will, wird sie sich hüten, das Gebäude von Wirtschaftsreformen der Regierung Rao zu untergraben. In beiden Fällen hat der Kongreß, der große Verlierer der Wahlen, eine Sperrminorität eingeräumt bekommen, die es ihm erlaubt, gewisse Fundamente seiner Regierungszeit zu beschützen. Die klare Botschaft dieses konfusen Urnengangs beweist wieder einmal die politische Reife des indischen Wählers. Bernard Imhasly, Neu-Delhi