Ein literarisches Leben

Droht jetzt die Chefkrise in der „FAZ“? Herausgeber Frank Schirrmacher wird beschuldigt, seinen Doktortitel unter dubiosen Umständen erworben zu haben. Seine biographischen Selbstauskünfte weisen bizarre Ungereimtheiten auf  ■ Von Jörg Lau

Vor einigen Wochen hat die FAZ mit einer Serie unter dem sinnigen Titel „Bildungslücken“ begonnen. In der redaktionellen Vorbemerkung dazu wurde ein „Bündnis für Bildung“ angemahnt, dessen Aufgabe es wäre, „mit dem Wildwuchs Schluß zu machen, der sich im Gefolge einer mißratenen Reform eingestellt hat und der die Bildungskatastrophe, vor der seinerzeit gewarnt worden ist, erst eigentlich hervorgebracht hat“.

Der bildungspolitische Kopf des FAZ-Feuilletons, Konrad Adam, zog eine Bilanz der Bildungsreform der sechziger und siebziger Jahre und stellte seine Lieblingsfrage, „die große Frage, die noch vor dreißig Jahren fast überall mit einem fröhlichen Ja beantwortet worden ist, die Frage nämlich, ob das öffentliche Bildungswesen Egalität und Exzellenz gleichzeitig hervorbringen kann“.

Wer den neuen Spiegel (Nr. 20, 1996) gelesen hat, wird Mühe haben, sich beim Wiederlesen dieser Sätze ein fröhliches Ja zu verkneifen: Man kann hier in aller Ausführlichkeit nachlesen, auf welch eigenartige Weise Frank Schirrmacher, der für das FAZ-Feuilleton verantwortliche Herausgeber, an der Gesamthochschule Siegen – einem typischen Produkt des sozialliberal-egalitären Reformbildungswesens – zu seinem Doktortitel gekommen ist.

Schirrmacher hat nach Recherchen des Blattes eine weitgehend mit seiner Magisterarbeit identische Kafka-Studie als Promotionsschrift eingereicht. Hinzu kommt, daß Schirrmacher den Text, wiederum weitgehend identisch, als längeren Aufsatz in einem von ihm selbst herausgegebenen Suhrkamp-Bändchen („Verteidigung der Schrift. Kafkas ,Prozeß‘“, 1987) veröffentlichte, bevor er ihn, geringfügig erweitert, in Siegen als Doktorarbeit vorlegte. Die Arbeit wurde, trotz Bedenken der Gutachter gerade gegen die neu hinzugefügten Teile, angenommen.

Dekonstruktion und Vergeßlichkeit

Ein „magna cum laude“ trotz Vorveröffentlichung wesentlicher Teile und weitgehender Textidentität mit der Magisterarbeit – wenn das nicht der von der FAZ so vollmundig beklagte „Wildwuchs im Gefolge einer mißratenen Reform“ ist!

Schirrmacher hatte womöglich „guten Grund, Thema und Datum seiner Arbeit ein wenig zu verfälschen“, gibt der Spiegel zu verstehen. In der Kurzbiographie des Munzinger-Archivs, die auf Angaben Schirrmachers beruht, hat er das Datum der Promotion auf 1986 zurückverlegt und die Kafka-Thematik verschleiert: Dort ist von einer „Dissertation über den amerikanischen Dekonstruktivismus“ die Rede. Gegenüber dpa hat Schirrmacher die Rückdatierung als ein „Versehen“ dargestellt.

Es fällt schwer, sich nach diesen Enthüllungen die Häme zu versagen: Hat der Herausgeber jener Zeitung, die in schnarrendem Ton zur Attacke gegen die bildungspolitischen „Weltverbesserer“ mit ihren totalitären Gleichheitsidealen ruft, von dem liberalen Schlendrian eben jenes Systems profitiert?

Die Affäre Schirrmacher, ein Musterbeispiel für die in der FAZ angeprangerte „Frivolität von Leuten, die Wasser predigen und Wein trinken“ (Konrad Adam)? Die Kritiker der Elche also wieder einmal selber welche?

So darf man es sehen, so wird man es sehen; allerdings gilt es den Punkt im Auge zu behalten, an dem die Kritik der Scheinheiligkeit selber in Scheinheiligkeit umzuschlagen droht.

Die Entlarvung eines dubiosen Titelerwerbs kann leicht ins Klassenprimushafte abgleiten. Man hat schließlich schon davon gehört, daß begabte Leute ihre Titel von wohlmeinenden Professoren zu recht günstigen Konditionen bekommen. (Niemand wird allerdings behaupten wollen, daß an Schirrmachers Kafka-Arbeit überhaupt nichts dran ist.)

Es ist auch nicht unbekannt, daß gerade solche Leute dann mit dem schlechten Gewissen der Illegitimität eine besondere Affinität zum Pomp der legitimen Kultur, zum scheint's unangreifbar Großen und Großartigen verspüren. Das hat, zugegeben, einen nicht ganz frischen Geruch. Der wiederum ist nicht mit einem bigotten Bildungsbegriff aus dem vorigen Jahrhundert zu bekämpfen.

Halbbildung, Schicksal der Besten

Man bedenke die Ironie der Lage: Daß der Herausgeber der FAZ, vorsichtig gesprochen, mit dem akademischen Comment lax umgegangen ist, könnte am Ende eine aufklärerische Wirkung gerade im betroffenen Milieu haben: Halbbildung, Adorno wußte das, ist unter heutigen Bedingungen aus systematischen Gründen das Schicksal auch der Besten. Es kommt, wie immer, darauf an, was du daraus machst.

Daß ein junger Aufsteiger aus den Mittelschichten, Jahrgang 1959, Beamtensohn aus Wiesbaden, es in sehr kurzer Zeit bis in die höchsten Etagen bringen konnte, ruft hierzulande starke Ressentiments hervor. Sie sind nicht der beste Kompaß durch dieses sumpfige Gelände.

Mit Schirrmachers Bestellung zum Nachfolger Marcel Reich-Ranickis als leitender Redakteur für „Literatur und literarisches Leben“ wurde ja auch eine ganze Generation übersprungen, was ihm viele nie verziehen haben.

Die Affäre wäre, darüber verliert der Spiegel kein Wort, nicht der Rede wert, wenn hinter all den Maskeraden nicht ein kluger Kopf stünde. Schirrmachers letzte große Aufsätze – zum Verkauf der Zeit, über Daniel Goldhagens Kollektivschuldthese, über François Furets Abrechnung mit dem Kommunismus – waren intelligente, ausgefeilte Stücke, um die die Kollegen das verhaßte „Edelmistblatt“ (Martin Walser) beneiden.

Unter Schirrmachers Führung und der seines Nachfolgers Gustav Seibt hat das Literaturblatt der FAZ konkurrenzlose Einschaltquoten errungen. Man wird sehen, wie (ob?) die Feuilletonredaktion mit einem Chef weiterarbeiten kann, der eine so faustdicke Blamage eingefahren hat.

Dem Temperament und den Sitten des Blattes gemäß ist mit zusammengebissenen Zähnen und Aussitzen nach dem Vorbild des Kanzlers zu rechnen. Die depressive Arbeitsatmosphäre, natürliche Folge eines solchen unterdrückten Konflikts (taz-Mitarbeiter wissen das), könnte auf die Dauer eine ernsthafte Gefahr für das immer noch angesehenste Feuilleton der Bundesrepublik werden.

Exzentrik und Tragödie

Interessanter aber als die Promotionsaffäre – die zwar nach den in der FAZ hochgehaltenen Maßstäben ehrenrührig ist, aber wohl doch nicht justitiabel – sind die vom Spiegel kolportierten Legenden, mit denen Schirrmacher sich umgeben haben soll. Sie sind teils so grotesk, daß man zwischen der Begeisterung über die Exzentrik dieser unglaublichen Geschichten und einem Anhauch von Tragödie weder ein noch aus weiß. Wer den Spiegel gelesen hat, dem wird schlagartig klar, „welch hochliterarischer Stoff hier vor aller Augen lag“ (Schirrmacher über Martin Walsers „Finks Krieg“).

So soll Schirrmacher erzählt haben, „er sei als Kind in Äthiopien entführt worden und unter den Augen von Männern aufgewachsen, die jederzeit bereit gewesen seien, ihn zu töten“. Er soll erzählt haben (um seine Chancen auf einen Aufstieg in die Herausgeberrunde zu verbessern?), er sei nicht Zivildienstleistender, wie zunächst behauptet, sondern „Panzerfahrer“ gewesen.

Über seine angebliche Herkunft aus einer „hochherrschaftlichen Villa“ soll er geflunkert haben und bei Gelegenheit verbreitet haben, er sei Halbjude. Vor diesem Hintergrund erscheinen rückblickend selbst die kleinen Unterschiede in den Schirrmacherschen Selbstauskünften erklärungsbedürftig: Warum war in der FAZ-Broschüre von 1986 noch nicht von dem Studium in Yale die Rede, von dem das Munzinger-Archiv weiß?

Das hatte seinerzeit eingeleuchtet: daß jemand, der über „den amerikanischen Dekonstruktivismus“ promoviert hat, in den frühen achtziger Jahren in Yale studiert haben wollte. Dort lehrte damals nämlich der amerikanische Guru der „Deconstruction“, Paul de Man. 1988, gerade zum neuen FAZ-Literaturchef bestellt, hatte Frank Schirrmacher seinen ersten großen Auftritt. In einem Artikel, der im unerbittlichen Ton des enttäuschten Schülers gehalten war, brachte er die Verstrickung des aus Belgien stammenden de Man in die geistige Kollaboration mit den Nazis ans Tageslicht.

Autobiographie und Maskerade

De Man hatte 1941 und 1942 im besetzten Belgien als Literaturredakteur der Zeitung Le Soir gefällige Artikel zur „Judenfrage“ geliefert und dieses Kapitel seiner Vergangenheit später peinlich verschwiegen. Schirrmacher schloß nun von der Biographie auf das Werk und erkannte in der Dekonstruktion eine Theorie der Verdrängung. Man sehe „jedem Argument und jeder These an, daß sie zur illusionären Flucht aus der Taterinnerung dienen sollte, zur neurotischen Absicherung eines eingeübten Gedächtnisverlusts“ (FAZ vom 10. 2. 1988).

Es könnte sein, daß die Gnadenlosigkeit dieser restlosen Rückführung eines ganzen Werks auf einen Akt der Dissimulation sich aus dem Wunsch nach Abstand zu einer im Grunde sympathetischen Position erklärt. Denn „illusionäre Flucht“ und „Gedächtnisverlust“, soviel scheint festzustehen, sind Frank Schirrmacher nicht ganz fremd.

Was seine eigene Biographie angeht, ist der Herausgeber der FAZ offenbar ein Dekonstruktivist in Aktion. Die Derridasche „Différance“, das endlose Sich- Entziehen der Bedeutung, das Entgleiten der Zeichen, die wieder nur auf Zeichen verweisen, ohne Hoffnung auf Verifikation – hier bekommt man einen Begriff davon, was es heißt, dergleichen zu leben.

Paul de Man hat 1979, mithin in dem Jahr, als Frank Schirrmacher – so steht es jedenfalls in den Archiven – sein Studium aufnahm, einen Essay über „Autobiographie als Maskenspiel“ veröffentlicht. Der Text richtet sich, was Wunder, gegen eine Lesehaltung, in der der Leser „zu einem mit Polizeigewalt versehenen Richter“ wird, der „beurteilt, wie es mit der Konsequenz im Verhalten des Unterzeichners [des autobiographischen Autors, J. L.] bestellt ist“. Der letzte Satz lautet: „Die Autobiographie verschleiert und maskiert eine Entstellung des Geistes, die sie selbst verursacht.“

Hier zumindest ist Paul de Man rückhaltlos gegen seinen späteren Entlarver recht zu geben: Wir tun gut daran, uns nicht als Polizisten und Richter über Frank Schirrmacher aufzuschwingen. Man kann es auch so sehen: Wer so inbrünstig wie unsereiner die Phantasie an die Macht wünscht, darf sich nicht wundern, wenn sie dabei seltsame Wege nimmt.