Kiezläden zu Marktplätzen

■ Erfragen Sie Ihr Stück selbst: „Zweieinhalb Millionen“, eine „interaktive Performance“ von Uwe Mengel in Mitte

Neue Schönhauser, am U-Bahhof Weinmeisterstraße, Dienstag zur Ladenschlußzeit. Es wird gebaut, die Straßenbahn fährt vorbei, und vor einem Geschäft sammeln sich Leute im Pulk. „Möbel“ steht über dem Eingang, aber Möbel sind nicht drin. Statt dessen liegt im Fenster eine Leiche. Schneewittchenartig sind die dunklen Locken ausgebreitet, am Arm klebt sichtbar Theaterblut. „Zweieinhalb Millionen“ verkündet das andere Schaufenster, und wer da nicht eintritt, ist selber schuld. Zumal es nichts kostet.

Tiefer im Raum stehen vier rote, begehbare Zylinder. In jedem sitzt ein Darsteller und wird bereits von Publikum belagert. Je zwei Personen können zusätzlich Platz nehmen, die anderen fragen von der Öffnung aus: „Seit wann kennen Sie Heike?“ „Inwiefern waren Sie an diesem Deal beteiligt?“ „Empfinden Sie denn keine Schuld?“ Noch weiter hinten, am Ende eines schmalen Ganges, blickt man in eine mit weißer Seide ausgeschlagene Zelle. Eine grüne Urne ist hier aufgebahrt, die Reste von Herrn Seyffert, dem ehemaligen Geliebten der Frau im Fenster.

Herr Seyffert ist tot, die junge Frau ist tot, was ist passiert? Der Bruder und die Schwester der Frau, die Mörderin und deren Freundin sitzen Rede und Antwort. Man muß nur anfangen zu fragen. Eine „interaktive Performance“ nennt Uwe Mengel sein Projekt. Man könnte auch sagen: eine Schauspielerinstallation. Die Rollen wurden getrennt voneinander erarbeitet, die Sicht auf das Vorgefallene variiert entsprechend von Zylinder zu Zylinder. Fest steht nur das Handlungsgerüst. Es geht um Geld, Liebe, Inzest und Ost/West, um Schuld, Verstrickung und Verdrängung.

Schauspieler und Publikum sind Grenzgänger hierbei: Sobald das Theater anfängt, könnte es leicht schon vorbei sein. Denn wenn der zum Zufallszuschauer mutierte Passant den installierten Darsteller als Figur akzeptiert, begibt er sich in eine täuschend echte Gesprächssituation – und schon guckt die Psychodynamik um die Ecke. Bleibt der Passant jedoch Passant, an nichts gebunden, zu nichts verpflichtet, drohen dem Darsteller Ausbeutung und Aggression. Das Publikum entfesselt, das Mitmachtheater frißt seine Akteure – ein Alptraum.

Indes, in Mengels Performance- Galerie scheint die Kunst-Öffentlichkeit zu funktionieren. Die Fragen sind nachdrücklich, aber sachbezogen, die Schauspieler behaupten sich trotz größter Intimität souverän. Beate Fischer und Felix Theissen sind dabei, Theatersportler und Mitglied bei Gorillatheater Berlin. Außerdem Uta Schulz vom Theater o.N. und Sabine Herken, Schauspiellehrerin an der HdK.

Der Autor und Regisseur Uwe Mengel, ein gebürtiger Rügener, der 1980 in die USA übersiedelte, hat ein ähnliches Projekt bereits 1983 in der Bronx inszeniert. Damals ging es unter anderem darum, ein Gespräch über das Verhältnis von schwarzen und weißen Amerikanern zu provozieren. Im doppelten Deutschland bot sich für ihn jetzt eine Fortführung an. Sozialtherapeutische Motive hat er nicht, ihn reizt es aus künstlerischen Gründen, die Leute zum Sprechen zu bringen. Deutschland, Stimmenreich, im O-Ton noch am konsequentesten.

Die Gespräche werden auch mitgeschnitten und später zu einem Hörspiel collagiert. Der SFB, Radio Bremen und der Hessische Rundfunk sind Koproduzenten, auch das Hebbel-Theater und die HdK sind an diesem Projekt beteiligt, das durchaus nicht ohne Nostalgie ist: Ein Laden im Kiez wird zum Marktplatz deklariert, wird zum Bahnhof für eine Reise zurück in eine Zeit, als in der öffentlichen Kommunikation Subjekt und Objekt noch nicht klar zu trennen waren. Daß es in diesem Fall auch kein Prädikat geben kann, versteht sich von selbst: Jeder bekommt das, was er (sich) verdient. Petra Kohse

Bis 18.5. und 21.-25.5., zwischen 18 und 21 Uhr, Neue Schönhauser Straße 10, Mitte