Der Tag, an dem Indiens Linke den Weg in die Regierung verpaßte

Der Morgen begann mit überschäumendem Optimismus. Die Gewinner der siegreichen Wahlschlacht entstiegen ihren Limousinen und verschwanden winkend im „Tamil Nadu“-Haus. In einer Stunde würden die vielen strahlenden Parteiführer der Linksfront/Nationalen Front ihren Kandidaten für das Amt des Premierministers salben. Die böse BJP hätte dann das Nachsehen.

Jyoti Basu sollte es werden. Der 83jährige Kommunist aus Westbengalen hatte am Vortag noch gezögert, zuletzt aber auf Zureden des Expremierministers V.P.Singh eingelenkt. Das grüne Licht des KP-Präsidiums war eine Formalität.

Doch dann kam die Trauerbotschaft aus dem KP-Hauptquartier: Die stramme Partei will nicht an einer Regierung teilnehmen, die von der verhaßten Kongreßpartei abhängt. Das Konklave verfiel in Schweigen. Plötzlich, um Mittag, gingen die Türen auf, und die Parteiführer stürmten heraus. Auf zu V.P.Singh!

Zwar hatte der sich schon aus dem Rennen genommen. Er sei todkrank und wolle in den letzten paar Jahren seines Lebens lieber Gedichte schreiben. Diesmal schien er wirklich nicht zu wollen. V.P.Singh hatte sein Haus am Morgen verlassen, und niemand wußte, wohin. Frau Singh konnte es nur vermuten: Auf der „Ring Road“ kreuze er herum, dem einzigen Ort, wo er von seinen Freunden sicher sei. Die Führer auf der Suche nach einem Führer standen eine Stunde ratlos im Garten und fuhren dann zurück.

Es war höchste Zeit. Der Auftrag zur Regierungsbildung, so verlautete aus dem Präsidentenpalast, stand unmittelbar bevor. Gegen fünf Uhr kam Jyoti Basu. Wortlos ließ sich der alte Mann einen Weg durch die Menge freilegen und verschwand im Innern des Baus. Dort erlöste er die Kollegen aus ihrer Führungsagonie: Der nächste Premier ist niemand anders als der berühmte Hardanahalli Dodda Gowda Deve Gowda.

Bekannt unter den letzten beiden Namen, hatte der Janata-Dal- Führer aus Karnataka im Süden einen großen Wahlsieg davongetragen – 15 Mandate! Nichts prädestinierte den Lokalpolitiker für die neue Rolle. Doch Deve Gowda hatte offenbar die richtigen Worte: „Ich bin ein demütiger Parteiarbeiter. Ich bin nur an Karnataka interessiert. Ich bin kein nationaler Führer. Ich darf mich nicht überschätzen.“ Als er aus der Tür kam, drängte sich jeder Politiker um ihn, umarmte ihn, hob seine Hände hoch.

Es war keine Zeit zu verlieren. Staatspräsident Sharma ist ein alter Mann und zieht sich früh zurück. Die Politiker schimpften: Es war 19:45 Uhr, und der Laden des Präsidenten würde um acht Uhr schließen. Endlich waren die Autos zur Stelle, jeder drängte sich hinein, und weg waren sie – auf dem Weg zur neuen Regierung.

Zu spät, wie sich am anderen Tag zeigen sollte. Die BJP erhielt den Regierungsauftrag. by