Zum Leben gehören die Klänge des Rai

Der sozialen Tristesse und der mörderischen Bedrohung durch die islamistischen Terroristen können die Menschen im Bürgerkriegsland Algerien nicht entfliehen. Aber aufgegeben haben sie sich nicht  ■ Aus Oran Bettina Rühl

Wer auf dem Dach des Hauses steht, hat einen Blick über die Stadt und bis aufs Meer. Wegen dieser Aussicht wurde das Viertel in der westalgerischen Stadt Oran „Bel Air“ genannt. In den engen Wohnungen stößt man nach wenigen Schritten an die gegenüberliegende Zimmerwand. An der nach dem Regen noch leicht feuchten Wand hängen Koranverse: die Sure über die Erschaffung der Welt und daneben ein Vers, den Fathia Chérif besonders mag: „Im Namen des großherzigen und mitleidigen Gottes, möge Gott dich segnen.“ Fathia Chérif betet oft, vor allem für die Zukunft ihrer sieben Kinder: daß sie eine Wohnung finden und Arbeit. Wenn beides Realität würde, wäre das tatsächlich ein kleines Wunder, denn 65 Prozent der algerischen Jugendlichen sind arbeitslos, und im ganzen Land fehlen mindestens 1,2 Millionen Wohnungen. Deshalb wohnt die neunköpfige Familie Chérif noch immer zusammen, obwohl die „Kinder“ längst erwachsen sind und die Küche und das Zimmer für neun Personen viel zu klein sind.

„Wir können uns kaum alle zugleich hier treffen, um miteinander zu reden“, sagt Fathia. „Wir teilen uns auf.“ Wir essen nacheinander, und drei meiner Kinder schlafen bei Nachbarn.“ Deren Wohnungen sind zwar auch nicht größer – ein Zimmer, eine Küche, kein Bad –, aber die Nachbarin Selima Amrani ist Witwe, und vier ihrer fünf Kinder sind bald nach der Geburt gestorben. Also wohnt sie mit ihrer 28jährigen Tochter Aischa alleine in dem Zimmer und hat folglich das, was man hier in Bel Air als „Platz“ bezeichnet.

Mit dem Broterwerb ist es ähnlich schwierig. Zwar haben eine Tochter und ein Sohn der Familie Chérif vor einem Jahr eine Stelle gefunden, doch das Geld ist knapp: 10.000 Dinar verdient Fathias Mann jeden Monat als Techniker in einer Textilfabrik. Die Kinder bringen monatlich zusammen 14.000 Dinar nach Hause. Damit hat die Familie umgerechnet rund 670 Mark, für algerische Verhältnisse fast schon ein kleiner Reichtum. Aber dieser „Reichtum“ zerrinnt beim Einkauf zwischen den Fingern, denn das Leben in Algerien ist teuer geworden: Der Liter Milch kostet jetzt 12 Dinar – vor wenigen Jahren waren es noch 2 Dinar 50. Und für den Preis von einem Brot gab es früher acht. Auch der Preis für Medikamente ist um 300 Prozent gestiegen. Das trifft die Chérifs hart, denn Sohn Lotfi hat Asthma und muß jeden Monat behandelt werden. Und die Behandlung verschlingt oft das Zehnfache der Miete.

Vor den Wahlen von 1991 hat Fathia wie viele Algerier auch gehofft, die „Islamische Heilsfront“ (FIS) könnte etwas ändern. „Aber sie töten ihr eigenes Volk. Sie töten gläubige Muslime. Sie tun nichts, als zu töten.“

Bis zu 50.000 Menschen wurden in den vergangenen vier Jahren von bewaffneten islamischen Gruppen oder staatlichen Sicherheitskräften umgebracht. Islamistische Terroristen haben auch verschleierte Schülerinnen und gläubige Mädchen, Hausfrauen oder Geistliche ermordet. Fast jede Familie in Algerien hat einen Toten zu beklagen. Seit der blanke Terror an die Stelle der Heilsversprechen getreten ist, „haben sich viele von den Islamisten abgewandt“, meint ein Journalist aus Oran. Die Kürzel der FIS stehen zwar noch immer an den schmutzigen Wänden in den quartiers chauds, den dichtbesiedelten und ärmeren Vierteln von Oran, doch ihr Einfluß gehe zurück.

75 Prozent der Algerier sind unter 30, und vor allem aus ihnen hat die FIS vor den Wahlen von 1991 ihre Anhänger rekrutiert: den Verlierern einer gescheiterten Bildungsreform und einer überstürzten Arabisierungspolitik, deren Schulabschlüsse und Diplome wenig mehr ermöglichen als den Zugang zur Arbeitslosigkeit und Langeweile.

„Ja“, sagt auch die 28jährige Aischa, „natürlich haben wir anfangs auf die FIS gehofft.“ Aischa sucht nach Hoffnung; seit sie von der Schule ging, ist sie ohne Arbeit. „Aber dann haben sie uns alles mögliche verboten und gesagt, unsere Art zu glauben sei falsch.“ Der Glaube gehört für die meisten Oraner zum Leben, aber zum Leben gehört hier auch die Musik.

Auf der Tanzfläche im Jugendzentrum „Maraba“ drängen sich Jugendliche und Kinder, ältere Männer und Frauen im gesetzten Alter. Unter denen, die im Gedränge vielsagende Blicke austauschen, sind auch kopftuchtragende Frauen und ihre Liebhaber. Sie tanzen zum Rai, diesem musikalischen Phänomen aus Oran, das in den 80er Jahren einen internationalen Siegeszug antrat. Wegen seiner anrüchigen Texte war der Rai unter dem Regime der damaligen Einheitspartei FLN in Algerien zunächst verboten. Aber der Erfolg ließ sich nicht aufhalten: 1985 fand in Oran das erste Rai- Festival statt, danach war das Eis gebrochen. Gleichwohl wachte ein Zensor fortan streng darüber, was von den oft anstößigen Texten in Radio und Fernsehen gesendet werden durfte. Auch acht Jahre nach dem Ende des Einparteiensystems wird immer noch kontrolliert, welche Rai-Titel im Radio laufen dürfen.

Gefährlicher ist allerdings die Zensur der islamistischen Terroristen – denn sie zensieren durch Mord. Im September 1994 exekutierten sie den Rai-Sänger Cheb Hasni vor seinem Haus in Oran. Cheb Hasni war mit seinen durch und durch unpolitischen Liedern das Idol der algerischen Jugend. Nach Lesart der radikalen Islamisten sprach aus seinen sentimentalen Liebesliedern der Geist des verhaßten Westens.

Nabil Louhibi hatte Cheb Hasni bis zu dessen Tod unter Vertrag. In seinem Verlag sind Kassetten der bekanntesten Rai-Sängerinnen und -Sänger erschienen, die heute im Exil leben: Khaled, Zahouania und Fadela. Louhibi denkt nicht daran aufzugeben, obwohl der Rai-Produzent und Sänger Baba Ahmed Rachid im März 1995 in Oran ermordet wurde. Bereits zwei Jahre vorher hatten die algerischen Musikverkäufer ein Schreiben von der „Armee des Islamischen Heils“ (AIS), dem bewaffneten Arm der FIS, erhalten. In dieser sogenannten „Ankündigung Nummer eins“ wurde ihnen der Verkauf von Schallplatten und Kassetten unter Androhung der „Todesstrafe“ verboten. Um möglichst wenig Aufsehen zu erregen, versteckt Louhibi seinen Laden hinter Stahltüren, statt die Kassetten in Schaufenstern auszulegen. Daß er bleibt, ist für ihn trotzdem eine Selbstverständlichkeit, auch wenn seine Arbeit „schwierig“ geworden sei, weil „die wichtigsten Musiker das Land verlassen haben“. Aber er finde noch genug Musiker für seine Produktionen: „Es gibt viele junge Leute, die sich ausbilden lassen. Wir versuchen, ihnen dabei zu helfen und sie zu fördern.“ Der Erfolg von Cheb Hindi gibt ihm recht: Der 40jährige hat gerade eine Kassette auf den Markt gebracht, die landesweit eingeschlagen hat. Die einfallsreiche Liebeserklärung im Titelsong begeistert die Jugend: Hindi zerreißt seinen Paß, um für immer bei seiner Frau in Algerien zu bleiben – Gataa el passeport. Hindi hat zehn Jahre lang in Frankreich gelebt, doch selbst der Mord an Hasni trieb ihn nicht wieder nach Europa zurück: „Natürlich habe ich Angst, denn bei uns ist alles möglich. Man kann heute oder morgen umgebracht werden. Aber – wie soll ich sagen – es ist Schicksal. Ich arbeite. Die Politik interessiert mich nicht. Mir bedeutet nichts etwas außer Alkohol und Musik.“

Trotz der Morddrohungen, trotz der Attentate und trotz der Angst vor Bomben – die Straßen in Oran sind voller Leben. Händler und Käufer drängen sich auf der Bastille, der zentralen Marktstraße von Oran. Alte Frauen haben ihr Gemüse auf dem Boden ausgelegt, Jugendliche bieten einzelne Walkmen zum Verkauf, und die Kunden begutachten gelassen Trüffeln und Karotten, Unterwäsche oder Hammelfleisch. Flaneure beleben den Boulevard am Meer, und die Liebespaare stehen zusammen.

Die Oraner erklären die Gelassenheit in ihrer Stadt mit einem Vergleich: „Wir sind die Schweiz, wir sind politisch neutral.“ Das meinen sie ernst, obwohl die Stadt von den Morden islamistischer Terroristen regelrecht gelähmt wurde. So im März 1994, als der international anerkannte Dramaturg Abdelkader Alloula ermordet wurde. Inzwischen haben Theatergruppen wie die von Alloula gegründete Kooperative „1. Mai“ ihre Arbeit wieder aufgenommen.

Auch die politische Arbeit der Initiativen geht weiter. Statt vor dem Terror zurückzuweichen, haben sich die AlgerierInnen in den vergangenen Jahren zu Assoziationen mit ganz unterschiedlichen Zielen zusammengeschlossen. Die meisten Initiativen gingen von den Frauen aus; mindestens 60 Vereine und Gruppen sind landesweit entstanden. „Wir haben lange genug auf die Veränderung von oben gewartet“, erklärt Houda Boudjedra von der Organisation Fard – „Algerierinnen, die ihre Rechte einklagen“. Houda Boudjedra ist in Bel Air groß geworden und hat als eine der wenigen aus dem Viertel studiert. „Dank“ ihrer Herkunft weiß sie, wie wichtig die wirtschaftliche Selbständigkeit der Frauen für ihre wirkliche Gleichberechtigung ist. An erster Stelle steht die Veränderung des algerischen Familiengesetzes, das 1984 noch unter der früheren Einheitspartei FLN eingeführt wurde: Die Frau ist dem Mann gesetzlich zu Gehorsam verpflichtet. Sie darf nur heiraten, wenn ein Ehevormund zustimmt, die Polygamie ist erlaubt, und die Frau kann eine Scheidung kaum durchsetzen. Außerdem will die Fard Ausbildungsgänge anbieten, denn im Berufsleben sind die Frauen bisher kaum präsent: Nur 7,8 Prozent der arbeitenden Bevölkerung sind weiblich.

Die Fraueninitiativen leben gefährlich: „Wir arbeiten halb im Untergrund“, sagt Houda Boudjedra. Die Arbeit von Haus zu Haus oder in aller Öffentlichkeit sei unmöglich, denn viele der ärmeren Frauen lebten in quartiers chauds, dort sei das Risiko besonders groß. „Wir wissen, daß die Assoziationen Algerien nicht revolutionieren können“, sagt Houda Boudjedra. Aber sie hat ein konkretes Ziel vor Augen: „Wir wollen eine Front in der zivilen Gesellschaft schaffen, die den Wandel durchsetzt.“