: Eine Maus in deiner Coca-Cola-Flasche
■ Was Freunden von Freunden Schlimmes passiert: Jean-Noel Kapferer über Gerüchte als ältestes Massenmedium der Welt
Sie schrauben eine Anderthalb- Liter-Flasche Coca-Cola auf, nehmen einen Schluck und merken, wie sich langsam etwas Festes zur Flaschenöffnung schiebt. Bei näherer Untersuchung stellt sich heraus, daß die Flasche über den üblichen Inhalt hinaus den zerstückelten Kadaver einer Maus enthält. Nein, mir selbst ist das nicht passiert, aber dem Freund eines Freundes...
Sie ahnen, worum es geht: Die zerstückelte Maus in der Cola ist nicht mehr als ein Gerücht, wenn auch ein ziemlich hartnäckiges und eines mit historischem Hintergrund. 1914 gewann ein Verbraucher im Staat Mississippi den Prozeß gegen eine Gesellschaft, die mit der Abfüllung von Coca-Cola beauftragt war. Also doch mehr als ein Gerücht?
In seinem Buch „Gerüchte – das älteste Massenmedium der Welt“ untersucht der französische Soziologe Jean-Noäl Kapferer die Struktur, Erscheinungs- und Wirkungsweise des Gerüchts. Für Kapferer ist es nicht wichtig, ob es sich dabei um Dichtung oder Wahrheit handele. Entscheidend sei vielmehr, daß die verbreitete Information von den offiziellen Quellen entweder noch nicht bestätigt oder noch nicht dementiert worden ist.
Damit sind exakt die Lebensbedingungen des Gerüchts umschrieben. Ebenso wie der Mangel an Information führt auch das Dementi unter Umständen dazu, daß das Gerücht am Leben gehalten oder gar neu entfacht wird. Kapferer nennt das Dementi daher zu Recht eine „gefährliche Kunst“. Man glaubte bisher, das Gerücht sei ein Ersatzmedium in einer schwach ausgebildeten Öffentlichkeit. Kapferer dagegen nennt das Gerücht ein „ergänzendes Medium“ mit eigenem Publikum, eigenen Verbreitungsgesetzen, eigenen Motiven: „Reden, um etwas zu erfahren“, „Reden, um zu überzeugen“, „Reden, um sich zu befreien“, „Reden, um zu gefallen“ und „Reden, um zu reden“.
Kapferer geht den individual- und sozialpsychologischen Motivationen nach, die bei der Verbreitung von Gerüchten eine Rolle spielen. Er erklärt den Erfolg des Gerüchts aus seiner gemeinschaftsstiftenden Funktion, aus der Neigung zu glauben, was man gern glauben möchte sowie daraus, daß wir komplizierte Erklärungen unwillkürlich für wahrscheinlicher halten als einfache.
Wer ein Gerücht weiterträgt, wird darauf bestehen, eine „uneigennützige Information“ zu verbreiten. Tatsächlich mag es ihm darum gehen, den anderen von dem zu überzeugen, was er selbst für wahrscheinlich hält. Auf diese Weise entsteht eine Kette scheinbarer Authentizität, die typisch für die Verbreitung von Gerüchten ist: „FOAF“ (friend of a friend) wird das Phänomen genannt. Die undankbarste Rolle nimmt dabei ein, wer Gerüchte überprüfen will. Er gilt als kleinlich und des freundschaftlichen Vertrauens nicht wert, das ihm erwiesen wurde.
Es ist schwer, sich gegen Gerüchte zur Wehr zu setzen, wenn sie einem Schaden zufügen. Kann es in einem Fall geraten sein, überhaupt nicht zu reagieren und abzuwarten, bis sich das Gerücht durch ständig weitere Übertreibung totgelaufen hat, so kann ein anderes Mal ein gezielt angebrachtes Dementi die richtige Strategie sein.
Es gibt aber auch Fälle, in denen selbst mächtige Firmen nur noch der Rückzug bleibt. Als der Pamper‘s-Hersteller Procter & Gamble 1980 wegen seines Logos verdächtigt wurde, ein Unternehmen der Moon-Sekte zu sein, riet die Firma zunächst ihren Vertriebshändlern, den Gerüchten entgegenzutreten. Zugleich wurde eine Dokumentation an über sechzig einflußreiche religiöse Meinungsführer in den USA verschickt. Als die Anrufe nicht weniger wurden, setzte das Unternehmen die geballte Macht von Fernsehen und Presse ein. Kurzzeitig nahmen die besorgten Briefe und Anrufe ab, doch bald schon wurde die eigens eingerichtete Hotline wieder von den immer gleichen Nachfragen blockiert. Entnervt beschloß man, das seit 1882 verwendete Firmenlogo von allen Produkten zu entfernen.
Leider ist Kapferers Darstellungsweise streckenweise sehr ermüdend. Das Buch enthält zahlreiche Wiederholungen und Längen, die bestimmt keine Stilfrage mehr sind. Stil bewies der Autor allerdings kürzlich bei einer Veranstaltung im Berliner Centre Marc Bloch: Wer seine Arbeit durch Informationen über außergewöhnliche Gerüchte und deren Verbreitung unterstütze, werde mit einem Freiexemplar belohnt. Den Kontakt vermittelt der Verlag. Peter Walther
Jean-Noäl Kapferer: „Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt.“ Gustav Kiepenheuer Verlag, 1996, 320 Seiten, 39,80 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen