Die neue Spezies: Angry working-class women

■ Sie sind wütend: Auf den Exmann, auf den Arbeitgeber und auf den Staat

Was wäre ein Wahlkampf ohne eine neue Wählerspezies. Als 1994 Newt Gingrichs Republikaner mit revolutionärem Eifer in den Kongreß einzogen, entdeckte man den „angry white male“. Gemeint ist der wütende, weiße Mann, der aus Frustration über Staat, Steuern und sinkende Reallöhne seine Stimme jenem Kandidaten gab, der zumindest gegen Staat und Steuern zu kämpfen versprach. Die Folge: Die Republikaner stellen seit zwei Jahren die Mehrheit im Kongreß, wo sie seitdem unter dem Banner des Defizitabbaus zentrale Säulen des amerikanischen Bundesstaates abzutragen versuchen: Sozialhilfe, Erziehungswesen, Arbeitsbeschaffungsprogramme, Umweltschutzgesetze, Krankenversicherung für Arme und Senioren...

Nun ist die berühmt-berüchtigte „republikanische Revolution“ bei weitem nicht so revolutionär verlaufen, wie sich die selbsternannten Revolutionäre dies gewünscht haben – nicht zuletzt, weil sich Bill Clinton und sein Veto-Stift oft als unüberwindbare Barrikade erwiesen. Doch Haushaltskürzungen und parteiübergreifendes Schnippeln am sozialen Netz – auch Bill Clinton ist im Umgang mit der Schere geübt – waren schmerzhaft genug, um wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen eine neue Wählergruppe ins Rampenlicht zu schieben: „angry working-class women“. Die sind wütend auf sinkende Reallöhne und steigende Versicherungsbeiträge; auf den Ex-Ehemann, der seine Alimente nicht bezahlt; auf den Arbeitgeber, der nur unbezahlten Mutterschaftsurlaub gewährt; auf die Krankenversicherung, die die Krebsbehandlung der Großmutter nicht mehr bezahlt. Und wütend auf den Staat – nicht etwa weil der, wie viele „angry white males“ meinen, zuviel, sondern weil er zuwenig tut. Frauen, da sind sich die Meinungsforscher einig, glauben immer noch an die positive Rolle des Staates, an Umwelt- und Arbeitsschutzgesetze, an ein soziales Netz – so weit dessen Maschen auch gespannt sein mögen.

Die besseren Menschen sind sie deshalb nicht – wohl aber der Teil der US-Gesellschaft, der mit traurigen Realitäten weitaus häufiger in Berührung kommt. Der Befreiung der Frau aus der Isolation von Kinder, Küche und Kirche ist eine besondere Spielart der „mens' liberation“ gefolgt: die Befreiung des amerikanischen Mannes von Verpflichtungen gegenüber der Familie. Über ein Drittel aller US-Familien bestehen heute aus einer alleinerziehenden Mutter und ihren Kindern. 63 Prozent dieser Frauen erhalten nicht einen Cent Unterhalt vom Vater ihrer Kinder. Der wiederum kann mit dem „eingesparten“ Geld in das eintauchen, was die amerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich einen „male fantasy trip“ nennt – eine Konsumwelt aus einem halben Dutzend Sportkanälen, Lifestyle-Magazinen, Autos, Computerspielen und dem Traum vom Multi-Marathon- Männer-Abenteuerurlaub. Frauen hingegen bleiben da, wo sie immer schon waren – mit einer Veränderung: zwischen Kindern, Küche und Job. „Noch nie“, sagt Ehrenreich, hätten ihre Landsmänner in den letzten 25 Jahren „so abgeschieden vom Alltag der Frauen und Kinder gelebt“. Kein Wunder, daß ihnen der Staat wie „das überdimensionale Schreckgespenst von Grundschullehrerin erscheint, die ihnen Steuern abknöpft, gesetzliche Beschränkungen auferlegt und überhaupt allen Spaß vermiest“. Kein Wunder, daß vielen Amerikanerinnen Newt Gingrich wie ein Monster mit Hackebeil vorkommt und sie auch Bob Dole wenig abgewinnen können. Gerade 38 Prozent würden dem Republikaner ihre Stimme geben, wären heute Wahlen. 52 Prozent würden Bill Clinton wählen. Bei den Männern sind Sympathien gleichmäßig auf beide Kandidaten verteilt. Doch bis zum Wahltag möchten auch die „angry working-class women“ mehr in Clinton sehen als die moderate Version eines Republikaners, deren Ideen er seit zwei Jahren kooptiert. Ansonsten, so die Prognose, bleiben sie zu Hause und überlassen wie schon 1994 den „angry white males“ das Feld. Andrea Böhm