piwik no script img

Vorrang für offenen Vollzug laut Gesetz

■ Offener Brief an die Berliner Justizsenatorin Peschel-Gutzeit: In der JVA Tegel könnte ohne großen Aufwand die Hälfte der Haftplätze in offene Vollzugsplätze umgewandelt werden. Die Drogenproblemati

Sehr geehrte Frau Dr. Peschel- Gutzeit,

das Strafvollzugsgesetz besteht nun seit über 20 Jahren, und noch immer sind einige der wichtigsten Bestimmungen des Gesetzes nicht erfüllt worden. Es steht nach wie vor die gesetzliche Forderung im Raum, daß der offene Vollzug Regelvollzug werden soll. Nach wie vor ist jedoch der geschlossene Vollzug in der JVA Tegel der Normalfall. Die Einweisungskommission der Anstalt bemüht sich zwar darum, möglichst vielen Gefangenen eine Überstellung in den offenen Vollzug zu ermöglichen, jedoch findet das Bemühen seine Grenzen in der geringen Aufnahmekapazität der Außenanstalten in Düppel und Plötzensee.

Würde man der Forderung nach Ausweitung des offenen Vollzugs Rechnung tragen, könnte dies bedeuten, wenigstens 50 Prozent der vorhandenen Haftplätze der JVA Tegel in offene Vollzugsplätze umzuwandeln.

Die Gestaltung des Hauses I der JVA Plötzensee zeigt, daß diese Umwandlung ohne den Einsatz größerer finanzieller Mittel möglich ist, zumal die hierfür nötigen handwerklichen Arbeiten von den Justizbetrieben der JVA Tegel ausgeführt werden könnten. Größere finanzielle Mittel sind lediglich erforderlich, um dem gesteigerten Bedarf an GruppenleiterInnen und SozialarbeiterInnen Rechnung zu tragen. Dabei kann die Einstellung weiterer Bediensteter innerhalb der Justizverwaltung auch durch Fördermaßnahmen nach AFG ermöglicht werden.

Der Forderung nach Umwandlung des geschlossenen Vollzuges in einen offenen wird meist die hohe Anzahl von Gefangenen entgegengesetzt, die wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt wurden. Dabei wird jedoch übersehen, daß die Haft im geschlossenen Vollzug ein Maß an Vergewaltigung der Persönlichkeit des einzelnen bedeutet – oftmals erweist sich nur die Flucht in den Rausch durch verschnittenes Heroin oder angesetzten Alkohol als Weg, dieser tagtäglichen Verelendung von Geist und Seele wenigstens für ein paar Stunden zu entfliehen.

Es liegt auf der Hand, daß durch restriktive Maßnahmen gegenüber kranken und abhängigen Menschen kein Kranker geheilt und kein Süchtiger von seiner Sucht befreit wird. Anstatt nun auf eine Quote von 60 oder 70 Prozent von Süchtigen zu verweisen, wäre es wohl an der Zeit, geeignete Maßnahmen zu treffen, die es einem inhaftierten Abhängigen ermöglichen, im Sinne des § 57 StGB „künftig ein Leben ohne Straftaten zu führen“.

Das Wegsperren, die bloße Verwahrung von Menschen im geschlossenen Vollzug ist hierfür der denkbar schlechteste Weg. Die Aufrechterhaltung des geschlossenen Vollzuges gerade gegenüber Abhängigen verstößt sogar eklatant gegen geltendes Recht, denn die Justiz hat eine besondere, gesetzliche Fürsorgepflicht gegenüber Gefangenen und ist dazu aufgefordert, schädliche Folgen des Strafvollzugs zu verhindern. Eine solche schädliche Folge ist es aber, wenn ein süchtiger Strafgefangener nach Jahren der Haft nach wie vor süchtig eine JVA verläßt. Süchtigen müssen alle Möglichkeiten eingeräumt werden, sich von ihrer Sucht zu befreien. Dazu gehört es, daß sie vorbehaltlos in Substitutionsprogramme mit Methadon oder Polamydon aufgenommen werden. Und dazu gehört auch, daß der einzelne Süchtige nicht durch besondere Sicherheitsmaßnahmen wie ein gefährliches Subjekt zweiter Klasse behandelt wird, sondern daß er als das akzeptiert wird, was er ist: ein kranker Mensch, der der Hilfe bedarf.

Der Hinweis auf die berühmten leeren Landeskassen zieht hier nicht. Denn wer heute eine Million ausgibt, um süchtigen Gefangenen ein späteres Leben ohne Sucht zu ermöglichen, vermeidet im nächsten Etat Folgekosten, die zweifellos entstehen werden, wenn Süchtige nur verwahrt werden. Diese Folgekosten werden erfahrungsgemäß wesentlich höher sein als die Summe, die für Substitutionsprogramme notwendig wäre.

Zur Wahrung der sozialen Gerechtigkeit wird es allerhöchste Zeit, daß Gefangene endlich in die gesetzliche Rentenversicherung aufgenommen werden. Ein Gefangener arbeitet während seiner Haft ebenso wie ein Mensch in Freiheit. Wie ein Schlosser in einer privaten Schlosserei ist ein inhaftierter Schlosser darum bemüht, Qualitätsarbeit zu leisten. Dafür erhält er ein Taschengeld, das in keinem Verhältnis zur erbrachten Leistung steht. Er ist zwar in die Arbeitslosenversicherung aufgenommen, bleibt aber, falls seine Haftzeit lang genug ist, trotz jahrelanger Arbeit im Alter auf dem Niveau eines Sozialhilfeempfängers. Wer mit seiner Hände Arbeit zur Auftragserfüllung der Anstaltsbetriebe beiträgt, hat das Recht, nach oftmals jahrelanger Plackerei wenigstens im Rentenalter ohne größere materielle Sorgen zu leben. Kaum ein Gefangener hat etwas dagegen, den gleichen Sockelbetrag, den er zur Arbeitslosenversicherung von seinem Taschengeld abgezogen bekommt, auch der Rentenkasse beizusteuern. Solange sich aber hierfür keine gesetzliche Regelung findet, werden einige der heute Inhaftierten nach ihrer Entlassung durch kriminelle Methoden wenigstens soviel Geld zu erlangen versuchen, daß sie nach dem 65. Lebensjahr keine größeren materiellen Sorgen haben werden.

Gefangenen die Aufnahme in die gesetzliche Rentenversicherung zu verweigern, verstößt nicht nur gegen die Fürsorgepflicht des Staates gegenüber seinen Bürgern, sondern auch gegen das Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes sowie gegen den Grundsatz, daß niemand wegen einer Straftat doppelt bestraft werden darf. Denn die Haft alleine stellt ja schon die eigentliche Strafe dar.

Ein weiteres, verbesserungswürdiges Kapitel im Strafvollzug betrifft die Unterbringung der Gefangenen. 1993 besuchte die Europäische Kommission für Menschenrechte die JVA Tegel. Sie hat dort unter anderem die Unterbringung der Gefangenen in den Häusern I bis III gerügt. Zum Vergleich: Einem Schäferhund stehen 12 Quadratmeter Zwingerfläche zu; ein Gefangener hat sich mit 8 Quadratmetern zu begnügen. Während es seit über 30 Jahren zum Standard des Wohnens gehört, wenigstens eine Steckdose im Raum zu haben, gibt es in Tegel und Plötzensee Häuser, in denen kein einziger Haftraum über eine Steckdose verfügt.

Obwohl das OLG Celle im Einklang mit Artikel 5 GG bereits 1988 festgestellt hat, daß die Zulassung eines Einzelfernsehers pro Haftraum der Wahrung der Meinungsfreiheit dient und somit die Verweigerung eines solchen gegen das Grundgesetz verstößt, müssen Gefangene in manchen Häusern der Anstalten Tegel und Plötzensee geradezu darum betteln, ihren Fernseher zu erhalten.

Die Würde des einzelnen wird mit Füßen getreten, wenn man Gefangene, wie es hier geschieht, mit löchrigen Arbeitshosen, zerrissenen Arbeitshemden, fadenscheiniger Unterwäsche und eingelaufener Bettwäsche versorgt, mit Kleidungs- und Haushaltswäsche, die 500 mal gekocht wird und die schließlich beim Herausnehmen aus dem Trockner auseinanderfällt.

Alle diese Mißstände werden nicht beseitigt, weil der Landeskasse angeblich das Geld hierfür fehlt. Landesmittel werden dafür lieber in Prestigeprojekte gesteckt, anstatt sie zur Aufrechterhaltung der Menschenwürde zu verwenden. Dieser verantwortungslose Umgang mit Steuergeldern trifft aber nicht nur die Straf- und Untersuchungsgefangenen, es trifft auch die arbeitslosen Alleinerziehenden, die Arbeitslosen, die Alten, die sozial Schwachen – kurzum, es trifft alle Mitmenschen, die nicht in das Bild der auf Prestige bedachten Bundeshauptstadt fallen.

Ich hoffe nun, daß Sie, Frau Justizsenatorin, sich durch die in diesem Brief angesprochenen Mißstände aufgefordert fühlen werden, den Strafvollzug in Berlin zu reformieren. Die Form des offenen Briefes an Sie habe ich gewählt, damit niemand mehr sagen kann, „man hätte ja von nichts gewußt“.

T. L. (JVA Tegel)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen