Einer, der „Nein“ sagte

■ 1941 wurde der Hamburger Wehrmachtssoldat Karl Heinz Schulz zum „Fahnenflüchtigen“ – und bis heute wird er dafür bestraft Von Volker Stahl

Im Mai vor 55 Jahren hatte der Wehrmachtssoldat Karl Heinz Schulz mit seinem Leben abgeschlossen. Vier Tage nach seiner Flucht von der Fahne wurde er im siebenbürgischen Kronstadt verhaftet. „Mir war klar, daß ich mit der Todesstrafe zu rechnen hatte. Aber das Risiko bin ich eingegangen, weil ich mein Gewissen nicht länger mit der Teilnahme an einem verbrecherischen Krieg belasten wollte“, sagt der Hamburger. Das erwartete Todesurteil wurde zwar in eine Zuchthausstrafe umgewandelt – auf eine Rehabilitation wartet der inzwischen 76jährige Regimegegner aber bis heute.

Ein geborener Pazifist ist Karl Heinz Schulz nicht. 1938 meldete sich der 18jährige zunächst freiwillig zum Reichsarbeitsdienst und wurde im November zum Wehrdienst eingezogen. Im August 1939 standen alle Zeichen in Richtung Krieg, erinnert sich Schulz: „Wir bekamen scharfe Munition, Sturmgepäck, einen Karabiner und die eiserne Verpflegung.“ Am 1. September überfiel die deutsche Wehrmacht Polen.

Schulz' Regiment wurde an die französische Grenze geschickt, er verrichtete dort Aufklärungsdienste. Im Mai 1940 half der folgsame Soldat mit, das neutrale Holland zu besetzen. Der Nahkampf gegen holländische und englische Marineeinheiten tobte fünf Tage, seine Schwadron hatte 120 Gefallene zu beklagen – genau die Hälfte der Krieger. Schulz überlebte und erhielt für Tapferkeit vor dem Feind das Eiserne Kreuz zweiter Klasse: „Ich war damals stolz darauf und hab' an Hitler geglaubt.“

Nach Zwischenstationen in Frankreich und Belgien beorderte Oberstleutnant von Boddin den gelernten Steward Anfang 1941 ins rumänische Städtchen Cimpina. „Ich mußte dort das Lokal La Petrica zum Offizierskasino umfunktionieren.“ Dieser Auftrag sollte für einen Bruch in seiner Biographie sorgen. Schulz freundete sich mit dem enteigneten Besitzer des Lokals an und lernte ein „nicht-arisches Mädchen“ kennen. Deutsche Offiziere stellen ihn wegen der „Rassenschande“ zur Rede und drohten mit Bestrafung. Für Schulz ein einschneidendes Erlebnis: „Ich fing an nachzudenken.“

Im Laufe der Zeit beobachtete Schulz, daß sich die Mißhandlungen der Zivilbevölkerung durch den Sicherheitsdienst (SD) häuften. Die Deutschen hätten sich zum Teil wie Herrenmenschen aufgeführt. „Ich geriet immer mehr ins Grübeln. Und dann hörte ich im Offizierskasino vom Unternehmen Barbarossa, dem geplanten Überfall auf die Sowjetunion. Da war mir endgültig klar: Das ist kein vaterländischer Krieg, sondern ein Eroberungsfeldzug.“ Noch am Abend des belauschten Kasinogesprächs desertierte Schulz. Es war der 8. Mai 1941.

Der Fahnenflüchtige wollte mit dem Dienstfahrrad über Ungarn und Österreich in die neutrale Schweiz gelangen. Um die lebensbedrohliche Gefahr und die Spannung ertragen zu können, suchte Karl Heinz Schulz nach einem Ventil. Er fing an, Tagebuch zu schreiben, formulierte seine Gedanken über die gesehenen Mißhandlungen, den unrechtmäßigen Krieg und bezeichnete Hitler als einen Psychopathen. Aber der befreiende Akt der Flucht dauerte nicht lange. Das Versteckspiel endete schon nach vier Tagen im siebenbürgischen Kronstadt. Ein Bauer hatte Schulz verraten.

Die Gestapo fand das Tagebuch. Drei Tage und drei Nächte lang wurde er verhört – ohne essen und schlafen zu dürfen. „Ich hab' denen alles erzählt. Daß ich in die Schweiz wollte und daß Hitler für mich ein Verbrecher ist. Ich dachte nur: lieber tot als Sklave sein.“

In der Verhandlung vor dem Kriegsgericht wurde Schulz am 22. Mai wegen Fahnenflucht und Zersetzung der Wehrkraft zum Tode verurteilt. Nur ein glücklicher Zufall rettete sein Leben. Generalleutnant Graf Sponecke, der Schulz in Holland das Eiserne Kreuz verliehen hatte, hörte von der Verurteilung seines ehemaligen Schützlings. „Er riet mir, ein Gnadengesuch zu stellen, befürwortete und schickte es nach Berlin.“ Zwei Monate später verkündete der Kom-mandant das revidierte Urteil mündlich: „15 Jahre Zuchthaus, 15 Jahre Ehrverlust, für die Dauer des Krieges Aufbewahrung im Sonderkonzentrationslager bei gefährlicher Arbeit und schmaler Kost. Die Strafe zählt nach dem Krieg.“ Schulz zitiert den Richtspruch in Sekundenschnelle, jede Silbe hat sich in sein Gehirn eingebrannt.

Das Leben des seinerzeit 21jährigen war vorerst gerettet, das Martyrium nahm seinen Lauf. Per SS-Lastwagen ging es Ende Juli 1941 ins KZ Esterwegen nach Ostfriesland. „Ich kam ins Lager 7. Wir wurden zur Moorkultivierung verdonnert und standen zwei Jahre lang morgens bis abends im Wasser.“ Bei dem unmenschlichen Arbeitseinsatz starben die Menschen wie die Fliegen. „Viele sind an Krankheiten und Unterernährung zugrunde gegangen. Andere wurden erschlagen oder erschossen, wenn sie das vorgeschriebene Pensum nicht erfüllen konnten.“

Zum mordenden Bewachungspersonal gehörten auch Bauern aus dem Umland. Die Menschenverachtung im Lager war Programm. Schulz schildert ein Beispiel: „Wenn der Kommandoführer jemand nicht mochte, riß er ihm die Mütze vom Kopf, warf sie über die Postenkette und gab den Befehl, die Kopfbedeckung wiederzuholen. Später hieß es dann: auf der Flucht erschossen! Das habe ich zwei- bis dreimal erlebt.“

Im Herbst „verbesserte“ sich Schulz ins Lager 3, weil er sich freiwillig zum Bombenentschärfen gemeldet hatte. „Ich mußte Blindgänger ausbuddeln, insgesamt 42 Stück.“ Er überlebte, seine Haftstrafe wurde ausgesetzt. Im Wehrmachtsgefängnis Thorgau gelandet, hatte Schulz einige „Mutproben“ vor sich: „Ich wollte den Test bestehen, weil ich zum Bewährungsbataillon kommen wollte. Dort habe ich mir bessere Überlebenschancen ausgerechnet.“ Schulz schaffte es und wurde dem Infanterie-Ersatzbataillon 500 zugeteilt. Sonst wäre er wieder im Moor gelandet.

Ab Februar 1944 wurde das Bataillon in Polen bei der Bekämpfung von Partisanen eingesetzt. „Ich hab immer in die Luft geschossen, weil ich Verständnis für die Partisanen hatte.“ Bald folgte sein letzter Einsatz, gegen die russische Armee. Und wieder hatte Schulz Glück im Unglück. Er weigerte sich, einen russischen Gefangenen zu erschießen: „Der Mann flehte um sein Leben, zeigte mir ein Foto von seiner Frau und fünf Kindern. Ich konnte es nicht tun.“ Jemand anders hat den Familienvater füsiliert. Doch bevor er erneut vor ein Kriegsgericht gestellt werden konnte, kam er in Kriegsgefangenschaft. „Sonst wäre ich an die Wand gestellt worden – mit Sicherheit.“

Karl Heinz Schulz gilt bis heute als vorbestraft. Die Urteile gegen die anderen Soldaten, die irgendwann „Nein“ zu einem Angriffskrieg sagten, sind nicht aufgehoben worden. Eine Entschädigung hat Schulz nicht erhalten. Zur Aufbesserung seiner bescheidenen Rente gewährt ihm die Hamburger Stiftung „Hilfe für NS-Verfolgte“ eine monatliche Beihilfe. Das ist alles.