Im Kranzler wird Berlin verdaut

Es gibt sie noch, die Stammgäste des Kranzlers. Sie essen Thüringer Eiersalat und ignorieren die Touristen. Von denen lebt Berlins berühmtes Café – und von seinem Nimbus  ■ Von Thorsten Schmitz

Jeden Tag verabschieden sich Abraham Goldstein und David Friedman mit einer Lüge von ihren Frauen. Pünktlich um 11.15 Uhr setzen sie ihre Armani-Sonnenbrillen auf, schlüpfen in ihre Boss-Blazer und sagen: „Schalom, ich gehe ins Büro.“ Auf dem Ku'damm in Höhe der Schaubühne treffen sich Goldstein und Friedman montags bis freitags und zelebrieren ein Ritual. Seit 15 Jahren spazieren die Herren zum Café Kranzler, das ist ihr Büro.

Denn in Wahrheit sind die beiden „deutschen Juden“, wie sie sich selbst sehen, in hohem Rentenalter und also ohne Profession. Der Gang ins Kranzler, die Hühnersuppe dort und die Tasse Kaffee zum Finale – „das ist wie zur Arbeit gehen“, sagt Abraham Goldstein und lacht sich kaputt. Herr Goldstein ist 73 Jahre alt, sieht zehn Jahre jünger aus, Herr Friedman feierte letzte Woche seinen 68. Geburtstag, und es hätte auch sein 58. sein können.

Die beiden Herren, Jugendfreunde und Geschäftspartner über mehrere Jahrzehnte, nehmen Platz immer am selben Tisch im Erdgeschoß – und wenn sie sich auch nur um fünf Minuten verspäten wie an diesem Dienstag vormittag, machen die Serviererinnen sich Sorgen: „Du, Karin, wo sind denn unsere Opis?“ Bei Kranzler sind Stammgäste vom Aussterben bedroht. Die Opis, die genausogut als Vorstandsvorsitzende einer Bank durchgehen könnten, sind sozusagen werktäglich Vertriebene. Ihre Ehefrauen hassen es, wenn die Gatten in die Mittagstöpfe schauen – und verscheuchen die beiden aus der Wohnung. Die Bürolüge ist daher eine im gegenseitigen Einvernehmen.

Über besonders viel Gesprächsstoff verfügen die Kranzler-Kumpel nicht: „Was kann man sagen, wenn man seit 15 Jahren zusammensitzt?“ Aber gucken können sie. Das Publikum bei Kranzler richtet den Blick ohnehin durch die großen Fenster auf den Kurfürstendamm: Das ist die Weltstadtperspektive. Das Stammgastduo beobachtet die Jugoslawen, wie sie auf dem Trottoir mit Taschenspielertricks den Touristen die 100- Mark-Scheine aus der Tasche ziehen, sie ergötzen sich an nackten Frauenbeinen und fühlen sich so mit der Welt verbunden, die einen als Rentner ja etwas mißachtet: „Man kann nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen. Hier ist immer viel los“, sagt David Friedman. Manchmal zuviel. Wenn Feiertage drohen und als Supplement, wie diesen Samstag, ein Pokalendspiel, meiden die beiden das Kranzler, zwangsweise. Denn dann gehört das Eck-Café in Spuckweite zum Bahnhof Zoo den Touristen – und nur ihnen. „Wir finden dann keinen Tisch.“

Nur unter der Woche, wenn auch die Serviererinnen mal ausspannen von der Massenspeisung am Wochenende, finden die Herren Goldstein und Friedman die richtige Mischung aus Anregung und Entspannung. „Wir verkehren nicht woanders“, sagt Goldstein. Allein der Gedanke, sich an ein anderes „Büro“ gewöhnen zu müssen, schreckt ihn. Im Kranzler gucken sie schon seit Jahren nicht mehr in die Speisekarte, die kennen sie auswendig.

Goldstein und Friedman gehören zu Kranzlers treuesten Kunden, und wie es sich für treue Kunden gehört, verbuchen sie Änderungen am Interieur wie Notare: Zur Kenntnis genommen. Und bleiben. Das Kranzler, haben sie über die Jahre registriert, „ist kälter geworden, moderner eben“, sagt Friedman. „Hoffentlich wird es wieder elegant, wenn die hier bauen.“ Das Kranzler lebt zuallererst von seinem Nimbus, zuallererst von seiner Unverwechselbarkeit. Kein Café ist bundesweit so bekannt, kein Ort in Berlin so Pflichtprogramm, höchstens das Brandenburger Tor noch. Jede organisierte Stippvisite endet oder beginnt mit einer Tasse Kaffee (3,80 DM) und einem Stück Erdbeerkuchen mit Schlag (8,50 DM) – Berlin wird im Kranzler verdaut.

Die Popularität des Tortentempels läßt sich nicht erklären, höchstens erahnen. Denn mit dem Kranzler, wie es einmal war, hat das Kranzler von heute nichts mehr gemein. Nur der Schriftzug überm Entree ist original geblieben und die rotweiße Markise. Der schönste Platz, die Rotunde im zweiten Stock, ist der Administration vorbehalten. Der Wind pfiff dort zu doll, die Ku'damm-Flaneure wollen lieber ebenerdig die Kranzler-Kreuzung kontrollieren.

An einem schönen Sommertag passieren 3.500 Menschen die Kuchentheke und sorgen, wie etwa an Himmelfahrt, in der Öffnungszeit von acht Uhr morgens bis Mitternacht, für einen Umsatz von 40.000 Mark. Ein schöner Sommertag ist immer auch „die Hölle“, wie Kranzler-Boß Dieter Eßling, 46, einräumt. Die Ventilatoren schaffen kaum noch frische Luft im ersten Stock, die Menschen stehen ratlos den Serviererinnen im Weg, Stadtpläne werden zwischen Sachertorte und Matjes studiert. Mit großem Gleichmut ertragen die Serviererinnen die unter Terminstreß stehenden Touristen, die noch im Stehen bestellen, in drei Minuten essen und nach einer weiteren bezahlen wollen.

Gelassenheit bringt der Direktor den Damen bei, nur ja nicht frech werden, lautet das Arbeitsethos. Über Pfingsten läuft das Kranzler-Kollektiv auf Hochtouren, dann herrscht Anwesenheitspflicht für alle 70 Angestellten. Wobei das Gedränge und Geschiebe und Gestöhne auch hausgemacht ist: Die Toiletten befinden sich im ersten Stock, also müssen die draußen sitzenden Gäste die Treppe rauf und wieder runter. Außerdem forciert das Procedere des Kuchenorderns weitere Fluktuation: Die Gäste dürfen den Kaffee bei der Serviererin bestellen, den Kuchen aber müssen sie an der Theke selbst aussuchen. Dort erhalten sie einen Bon, den sie, zurück am Tisch, der Kellnerin geben, die wiederum das süße Stück holt und bringt. So erspart das Kranzler seinen Serviererinnen unnötige Lauferei, wenn ein gewünschter Kuchen mal nicht da ist. Es bedienen nur Frauen, weil Männer „mit Kuchen nichts anfangen können“, sagt Direktor Eßling.

Das Kundeneinerlei macht Isa Peterson nur am Rande zu schaffen. Hauptsache, findet die 78jährige Pensionärin aus dem vornehmen Charlottenburg, „ich kann in Ruhe meine Illustrierte lesen.“ In diesem Fall das Goldene Blatt. Frau Peterson sitzt mit ihrer Tochter inmitten des Getümmels wie eine lebendige Trotzreaktion. Sie guckt nicht rechts, nicht links, und selbst als ein Tourist mit seiner Videokamera ihre Schulter streift, bleibt sie regungslos. Und sagt: „Von den Touristen lassen wir uns nicht vertreiben.“ Mutter und Tochter speisen jeden Freitag im Kranzler, sie sehen sich ja sonst kaum noch. Die Tochter, schätzungsweise 100 Kilogramm Lebendgewicht und die Bluse so hellrosa wie die der Serviererinnen, nimmt Thüringer Eiersalat zu sich, die Mutter einen opulenten Südtiroler Schinkenteller. So was sieht die Kranzler-Administration gern, denn mit Kuchen allein läßt sich kein Betrieb an 365 Tagen im Jahr offenhalten. Und deshalb auch hängen in der Kranzler-Confiserie Teddybären und Schmusetassen. Der Traditionsbetrieb muß mit der Zeit gehen, der Direktor wünschte, es wäre anders.

Insgeheim nämlich pflegt Dieter Eßling eine Leidenschaft für Stil und Anstand. Früher, sagte Eßling, hätten sich „die Leute“ noch fein angezogen für den Besuch in einem Kaffeehaus. Aber er weiß es ja, heute sind Jeans in der Oper salonfähig. Das Kranzler mit seiner zentralen Lage und langen Öffnungszeit muß jedem gerecht werden. So, und nur so, hat sich Eßling, der Geschäftsmann, beispielsweise mit den Stühlen abgefunden, funktionalen Holz- und Stoffsesseln aus Italien, die sich prima stapeln lassen. „Ich hätte es auch gerne weniger zweckmäßig.“ Thonetstühle könnte er sich vorstellen, schön klassisch. Aber: „Es ist kein Platz für Tradition.“

Das Kranzler kann nur bestehen, wenn „du alle reinkriegst und alle sich wohl fühlen“. Alle zwei Jahre ordert Eßling zeitgeisthalber neue, buntere Eisbecher – obwohl es die alten doch auch tun. Die alten Marmortische ließ er durch pflegeleichte Resopaltische austauschen – und als ob er sich dafür schämt, versteckt er die Neuanschaffung unter drei Lagen Tischdecken. Daß Kondensmilch in Plastikdöschen gereicht wird, ist ihm auch nicht recht. Aber die Kunden verfallen zu 50 Prozent dem Spieltrieb – und schütten Salz in Milchkännchen. „Ach“, seufzt Eßling, wenn er über die verlorene Tradition grübelt, und dieses Ach klingt so, als tue ihm die Seele weh.

Den Schmerz macht er wett, indem er immer für sein Team da ist. „Ich will den Laden hautnah miterleben.“ So flachst er mit den Serviererinnen, holt Eis aus dem Keller, wenn wirklich niemand eine Hand frei hat, bedient auch schon mal und achtet darauf, daß sein Team schön freundlich bleibt: „Die Berliner Schnauze kann keiner mehr hören.“

An normalen Werktagen liegt das Durchschnittsalter der Kranzler-Konsumenten bei 60 Jahren. Dann läßt sich erahnen, wie wichtig der Kuchen am Ku'damm für die alten Mütter ist, die alle so aussehen wollen wie ihre Töchter. Frisch onduliert und teuer beschmückt sitzen sie in ihren Stammecken und informieren sich über Prinzessin Dianas Seelenlage, schauen beim Gang aufs Klo zweimal in die Flurspiegel und kontrollieren das stets zu dick aufgetragene Rouge. Sie sitzen dreimal solange wie die Drei-Tage-Touristen und lassen so den Serviererinnen Zeit zum Tratschen. Über die unverschämte Japanerin, die erst nichts trinken will und dann in ihrer Sprache auf die Kellnerin einschreit, über das Gerücht, daß das Kranzler nun doch verschwinden soll. Daran glauben tut keiner. Wenn das Kranzler nicht mehr ist, sagt der Küchenchef Manfred Dockhorn, dann... Lange fällt ihm nichts ein. Dann erinnert er sich: „...dann sind wir doch arbeitslos.“

Von einem Kranzler-Abgang will auch Beate Uhse, 76 Jahre alt, nichts wissen: „So ein Quatsch, das Kranzler überlebt uns alle.“ Frau Uhse geht so oft sie kann auf Kranzler-Entspannung, ißt Apfelstrudel mit Vanilleeis und löst dabei das Kreuzworträtsel in der Bild-Zeitung, die dem Café gehört. Immer bestellt sie Apfelstrudel, „obwohl die Portion für ein Nilpferd geschaffen ist“.

Warum sie ins Kranzler geht, darüber nachgedacht hat sie nie. Stimmt, es gibt zehn andere Cafés, die näher liegen zu ihrem Erotik- Museum am Bahnhof Zoo. „Vielleicht aus Nostalgie?“ sinniert sie. Vielleicht. Auf jeden Fall sei es mit dem Kranzler wie mit dem Wiener Hotel Sacher: „Da geht man hin, ohne groß zu überlegen, warum.“