Doppelte Lust, doppelter Frust?

■ Auf einem viertägigen Treffen wehren sich Bisexuelle gegen Schubladendenken und treten für sexuelle Freiheit ein. Sex-Forscher Oswalt Kolle kritisiert die eigene Zunft

Obwohl der Sexualaufklärer Oswalt Kolle bereits vor dreißig Jahren zu sexueller Freiheit aufgerufen hat, lösen sich die Tabus offenbar nur langsam. Homo oder Hetero? lautet meist die Frage. „Warum muß immer alles in Schubladen gepackt werden. Jeder sollte sich doch seinen Lebensstil suchen dürfen“, sagte Jürgen Höhn vom Bisexuellen Netzwerk auf dem vierten Internationalen Bisexuellen Symposium.

Noch immer habe Bisexualität den Nimbus des Geisterhaften. „Alles spricht darüber, aber niemand will es gesehen haben oder gar betroffen sein“, meinte der 49jährige. Probleme gebe es aber nicht nur mit den Heteros: „Aus jeder Richtung heißt es, entscheide dich.“ Besonders in den Dreiecksbeziehungen, die viele Bisexuelle leben, sei dieser Sprengstoff allgegenwärtig. „Da sind die Verlustängste besonders massiv“, sagte Höhn.

Rund zehn Jahre sei es her, seit sich in Deutschland erste bisexuelle Gruppen gegründet haben. „Wer sich zwischen Baum und Borke fühlte, kam dazu“, sagte Höhn. Vor rund dreieinhalb Jahren habe sich schließlich als zentrale Anlaufstelle das Netzwerk mit Sitz in Potsdam und Berlin gegründet, das inzwischen über 100 Mitgliedschaften zähle.

„Ob bei Selbsthilfegruppen, am allwöchentlichen Berliner Stammtisch oder größeren Treffen – es ist altersmäßig immer eine sehr bunte Mischung“, sagte Höhn. Stark vertreten sei die Gruppe um die 20, „die halt so am Ausprobieren sind“. Resignation erlebe er dagegen bei Älteren über 50 Jahren. „Viele von ihnen haben ihre Neigung lange Zeit unterdrückt“, sagte Höhn.

Das gesellschaftlich anerkannte Lebensmotto müsse endlich lauten: „Jeder darf das machen, was er tief in sich drin fühlt“. Mit dem Berliner Symposium, auf dem mehr als 350 Bisexuelle und Wissenschaftler vier Tage lang in mehr als 50 Veranstaltungen über Konflikte und Ethik bisexueller Lebensformen diskutierten, soll laut Höhn die Lobby der Bisexuellen in der Gesellschaft gestärkt werden. „Wir wollen zeigen, daß wir weder spinnert noch verworren sind.“

Doppelte Lust, doppelter Frust? „Natürlich ist es schwierig, schließlich muß ich mich ständig neu definieren, aber Bisexualität bedeutet, daß ich meine Sexualität 100prozentig ausleben kann – die große Lust überwiegt eindeutig“, sagt eine 29jährige Erzieherin, die aus beruflichen Gründen anonym bleiben will. „Die größte Normalität ist die Liebe zu beiden Geschlechtern. Homos und Heteros sind Eingeengte“, meint der 42jährige ehemalige katholische Religionslehrer Fritz Letsch.

Er ist der Papst, der Vorreiter auf dem Gebiet der sexuellen Freiheit: Oswalt Kolle. Mittlerweile 67 Jahre alt, seit 1949 mit seiner Frau liiert, empfindet er Lust ebenso bei Männern. Trotz seiner 30 Jahre währenden Bemühungen prallten Anders-als-hetero-Lebende immer noch auf Unverständnis, Abwehr oder gar Verachtung. „Die Menschen müssen endlich begreifen, daß es keine normale Sexualität gibt, sondern unendlich viele Spielarten“, sagt Kolle.

Die schwul-lesbische Szene war in Deutschland vor rund zehn Jahren Sprungbrett für die ersten bisexuellen Gruppen. „Das Schlimmste ist, daß heute gerade die Homosexuellen gegen die Bisexuellen wettern“, meint Kolle.

Geforscht, geschrieben und gesagt wurde schon so manches zum Thema Bisexualität. Wenn man Kolle glauben darf, mit mehr als unbefriedigendem Ansatz. Die Wissenschaftler seien – bis auf wenige Ausnahmen – von einer These ausgegangen: „Was die Mehrheit tut, ist wohlgetan. Minderheiten sind entweder unreif oder krank oder verdächtig.“ Ist es denn ein Wunder, so Kolle, wenn schon ausgewiesene Sexualforscher diesem Klischee unterliegen, daß die Gesellschaft immer noch ein „Sexualbrett“ vor dem Kopf hat?

Aber – und dagegen wehren sich die Bisexuellen ganz massiv: „Wir wollen das Ganze nicht als Emanzipation für eine neue Schublade verstanden wissen, sondern als Bewegung zur Auflösung der Fronten in der Gesellschaft“, sagt Höhn. Imke Hendrich (dpa)