Das nötige Zeitgefühl

Für die Tanzgruppen Berlins wird's Sommer – am Halleschen Ufer hat die TanzZeit begonnen. Zunächst: Jo Fabian und Rubato  ■ Von Michaela Schlagenwerth

Markerschütternde Schreie stören das glückselig Walzer tanzende, entrückte Paar des Schlußbildes, ohrenbetäubender Lärm tönt aus den Boxen, dann ist das Stück aus und jede Illusion vom schönen Schein zunichte. Wie schreibt sich Erinnerung in den Körper ein? Wie können wir sie wecken, diese dem Bewußtsein nicht hörigen, in den Körper deponierten Gedächtnisbilder, haben sich die Rubatos – das Choreographenpaar Jutta Hell und Dieter Baumann – in „Persona Persona“ der zweiten Premiere der diesjährigen TanzZeit gefragt.

Zunächst geht es meist heiter zu. Die Rubatos haben einen skurrilen Humor, einen Hang zum Absurden, der erstmals in ihrer letzten Produktion „Fernblau“ richtig zur Entfaltung kam und unter anderem auch hier in merkwürdig eckigen Bewegungen Gestalt gewinnt. Den ganz persönlichen Kitschbildern des Vergangenen, so wie wir sie alle in unseren Herzen herumtragen, wird nachgegangen. Ebenso den ganz persönlichen Alpträumen der Tänzer.

In seinen besten Momenten ist „Persona Persona“ allerdings völlig abstrakt. Da tanzen die Tänzer völlig ausgelassen und scheinen sich weniger zu erinnern, als sich vielmehr zu vergessen, während die Musikerin und Sängerin Annun Matteucci auf einer hohen Leiter stehend Unleserliches an die Rückwand kritzelt. Wunderschöne Momente gibt es, humorvolle, verspielte, traurige und am Ende auch bedrohliche – nur leider kann der Zauber auf die Dauer nicht gehalten werden.

Genau das ist dagegen Jo Fabian gelungen, der mit „Autist World – über die Vollkommenheit des Fragments“ die TanzZeit letzte Woche eröffnet hatte. Es ist Fabians beste Arbeit seit Jahren, vielleicht seine beste Arbeit überhaupt. Einen überzeugenderen Beweis dafür, daß der vor zwei Jahren zum Berliner Theatertreffen eingeladene Regisseur/Choreograph/Komponist keineswegs „ausgebrannt“ ist und sich „immer nur wiederholt“, wie der Beirat für freie Gruppen behauptete, als er beschloß, Fabian keine Optionsförderung mehr zuzubilligen, hätte es nicht geben können.

Allerdings: Wer das Stück nicht gesehen hat, kann dies nicht nachholen. Denn „Autist World“, das extra für die TanzZeit erarbeitet wurde, ist nur ein einziges Mal aufgeführt worden. Ein Stück über die Unwiederholbarkeit eines Theaterabends und letztlich auch darüber, daß Jo Fabian sich nicht (nur) wiederholt.

Im Schutzraum der Einmaligkeit hat Fabian eine magische Bilderwelt von außerordentlicher Schönheit entfaltet, eine Reflexion über das Sichtbare und das Unsichtbare. Indem dem Zuschauer (ungewohnt) behutsam alle gängigen Orientierungen entzogen wurden, änderte sich die Wahrnehmung, öffnete sich der Blick. Nahezu eine Viertelstunde spielte ein Gitarrespieler Flamenco auf fast dunkler Bühne, während die Lichter im Zuschauersaal an und die Türen geöffnet blieben. Jede Veränderung wurde bedeutsam und als ein Tänzer später dem Gitarristen auf offener Bühne die Haare abrasierte, war man auf das Zeitgefühl eingependelt, das nötig ist, um Assoziationsräume zu öffnen.

Ein kleiner Junge tanzte unter einem gigantischgroßen, surrealen, verweht im Raum stehenden weiblichen Stangenkorsett, eine schwangere Frau im langen weißen Kleid durchquerte auf Spitze die Bühne, ein Klavier spielte von selbst ein Volkslied, hinter dem Gitarristen verbarg sich eine ins Unendliche gehende Stuhlreihe. Am Ende wartete ein Mann mit Kerze gemeinsam mit den Zuschauern dem Abbrennen des Stummels entgegen. Als die Rezensentin ging, was das Stück eigentlich schon eine halbe Stunde zu Ende (beziehungsweise nicht zu Ende), und immer noch saßen rund hundert Leute im Saal – Theater als Happening.

Rubato: „Persona Persona“, bis 3. 5., 21 Uhr, Theater am Halleschen Ufer (32), Kreuzberg