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Strange Adornment

Bericht von einer Sexmesse  ■ Von Gabriele Goettle

Magdalenen-, Ecke Normannenstraße. Gewöhnlicherweise ist es hier sonntags still und menschenleer. An diesem Sonntag jedoch herrscht reger Andrang auf die Parkplätze und den Eingang eines Neubaus mit kupferfarbenen Fensterscheiben. Congreß-Center heißt dieses Gebäude der ehemaligen Stasizentrale nun, und die darin stattfindende Sexmesse trägt den Namen Eurotika. 35 Mark beträgt der Eintrittspreis, dafür darf sich der Kunde auf die Verkaufsmesse begeben, seine Besorgungen machen und beliebig oft hin- und herpendeln, zwischen erotischem Kunstgewerbe in der ersten Etage, diversen Ständen und einer Bühnenshow mit wechselnden Darbietungen in der dritten Etage.

Die Kunden, von einigen Pärchen und Ehepaaren abgesehen, sind ausschließlich Männer, vorwiegend im Alter zwischen 35 und 55 Jahren. Sie bilden ein Gedränge, aus dem heraus schlendernd die dargebotenen Gerätschaften betrachtet, betastet, begutachtet werden. Dialog zwischen Kunde und Verkäufer:

V.: Der Fuß läßt sich mühelos abschneiden, wenn Sie das unbedingt wollen.

K.: Wirklich? Mache ich mir da nichts kaputt?

V.: Wenn Sie vorsichtig abschneiden, nicht. Aber auf keinen Fall mit der Schere, sondern mit einem Teppichmesser. Sie legen je ein Bein glatt auf eine feste Unterlage und ziehen das Messer mit einem Schnitt durch (lacht). Da ha'm Sie dann gleich ein Paar Socken gratis. Die kosten bei uns sonst 19 Mark, die Gummisocke und die Strümpfe – mit Fuß, wie gesagt – kommen 59 Mark.

Dazu gibt es diverse Gleitgels und eine „Gummi-Anziehhilfe“ zum Anrühren – rein pflanzlich – 50 Gramm für 20 Mark. Im Angebot sind auch Sexuallockstoffe im Zerstäuberfläschchen, für Sie und Ihn, ebenso ein Lederparfüm. Am Stand gegenüber gibt es „surreal erotic rubber clothing and corsets“ aus England, seltsame schwarze Gummimieder mit roten, aufblasbaren Wülsten, für Männer und Frauen. Eine Engländerin in solch einem Mieder ging vor mir her und setzte sich, vollkommen ungerührt, mit diesem leuchtendrot schwellenden Pavianhinterteil auf einem Hocker zur Kaffeepause nieder. Der Handschellenstand bietet baumelnd aufgehängt in- und ausländische Modelle, von zierlich bis massiv. Ein Schild teilt mit: „Alle angebotenen und ausgestellten Handschellen dürfen hier getestet und probiert werden.“ Der Verkäufer hebt ab und zu ein Paar Handschellen hoch und ruft: „Messemodell, für Neueinsteiger zum halben Preis!“

An einem Stand für extreme Stöckel- und Plateauschuhe interessiert sich ein älteres Ehepaar ernsthaft für hüfthohe schwarze Lederstiefel zum Schnüren. Preis knapp 500 Mark. Sie hält sich einen der Schuhe prüfend ans Bein und ignoriert, daß er ihr bis fast zur Brust herauf reicht. Allerdings hat die Plateausohle gute 20 Zentimeter. Am Tantrastand zeigt ein stadtbekannter Seminarleiter der Dame mit dem Fernsehteam sein schlaffes Genital. Der Kameramann fährt nach kurzer Großeinstellung hinauf am blassen Oberkörper zum Gesicht und verweilt auf den Geheimratsecken und dem schütteren graublonden Zöpfchen. Frauen, die sich einzeln zum „Tantra-Jahrestraining“ für stolze 5.250 Mark anmelden, bekommen eine 50prozentige Ermäßigung. „Zwei Frauen, die sich gemeinsam anmelden, zahlen zusammen statt zweimal 50 Prozent nur zusammen 50 Prozent des Preises“ für „Lust- und Orgasmustraining, Verzückung in der schmerzvollen Hingabe, indischen Hoftanz und tantrisches Kochen.“ Ein Sexshop, „FOR LADIES“, präsentiert sein Sortiment, das fast nur aus phallischen Instrumenten besteht. Daneben führt man eßbare Unterwäsche in zwei Geschmacksrichtungen und auch schockfarbene Dildos in Delphinform, „die zu gründlichen Reinigungszwecken ausgekocht werden können“.

Stark umlagert ist der Piercing- Stand aus Brighton. Zwei untersetzte Engländer mit Halbglatzen faszinieren die Kunden. Sie tragen Muscleshirts und schwarze Lederhosen, Spannverschlüsse aus Metall am Hosenschlitz. Dazu passend Handschellen oder auch Nagelbänder an jedem Handgelenk. Auf der eigenen Haut präsentieren sie ihre Kollektion, die, da sehr umfangreich, hier auf kleinster Fläche untergebracht werden mußte. Allein in den Augenbrauen stecken zahllose Spießchen, Ringe, Schrauben, ebenso am Lidrand, den Nasenflügeln, der Nasenwurzel. Ober- und Unterlippe sind durchbohrt von Spießchen, die in verschiedener Länge so angeordnet sind, daß sie wie ein eisernes Bärtchen aussehen. Die Ohrläppchen des einen Mannes sind von Ringen gesäumt, der andere trägt sein linkes Ohrläppchen gedehnt und aufgeschlitzt, während im rechten eine Holzscheibe das Gewebe bis an die Grenzen der Reißfestigkeit spannt. Auf speziellen Kundenwunsch werden auch die intimeren Verzierungen freigelegt und zu Demonstrationszwecken ausgetauscht. Auf einer Behandlungspritsche hinter weißen Paravents werden Interessenten beraten oder auch mit dem Gewünschten ausgestattet. Es gibt Ohren-, Lippen-, Nasen-, Zungen-, Wangen-, Brustwarzen-, Nabel-, Labien-, Penis- und Scrotum-Piercing sowie die dazu gewünschten Spieße, Ringe, Schrauben, Steigbügel und Monstergewichte, „manufactured from the very highest grade of surgical stainless steel“.

Die Kunden, von denen viele bereits mindestens einen Ring im Ohr tragen – womit man heutzutage ohne weiteres zur Arbeit gehen kann, sei's als Busfahrer, Lehrer oder Kaufhausdetektiv –, kramen in den Sortimentkästchen, lassen das schwerere Equipment durch die Finger gleiten; gedankenverloren, hingebungsvoll, mit abwesendem Gesichtsausdruck. Offenbar spricht vieles für einen selbstgewählten Nasenring, nicht zuletzt schonungsloses Training für härtere Zeiten.

Ein paar Meter weiter gibt es die geballte Faust – einstmals Symbol des Widerstands – als Instrument für extremen Analsex. Am Lederstand geht der Vorrat an Peitschen „zum Super-Sonder-Messepreis von 39,90 DM“ allmählich zur Neige. Hergestellt werden sie von Heimarbeiterinnen in Polen.

Beim Versuch, ein paar Männer anzusprechen und zu befragen, stoße ich auf einen älteren Mann mit bürstenlangem grauem Haar. Er trägt seinen hellen Mantel bis oben hin zugeknöpft, den Kragen hochgeschlagen und wirkt etwas deplaziert.

G.: Entschuldigen Sie die Frage, sind Sie ehemaliger DDR-Bürger?

M.: Was spielt das heute noch für eine Rolle? Weshalb möchten Sie das denn wissen? Ich sehe mich hier nur etwas um, wie jeder andere auch.

G.: Weil diese Messe hier in einem ehemaligen Stasigebäude stattfindet. Ich möchte wissen, wie ein ehemaliger DDR-Bürger darüber denkt.

M.: Na ja ... ehrlich gesagt, es macht mich schon ein bißchen traurig, ich hätte mir einen anderen Veranstaltungsort lieber vorgestellt als ausgerechnet im ehemaligen MfS ...

G.: Kannten Sie die Räumlichkeiten früher schon?

M.: Kein Kommentar!

(Er wendet sich ab und geht. Ich verfolge ihn.)

G.: Sie kannten sie also, dann sagen Sie mir doch nur eins, was war der frühere Verwendungszweck dieses Hauses?

M.: Nein, nein!

(Ich gehe ihm weiter nach und stelle ihn schließlich in einem Stau vor den Lederdessous.)

G.: Nun sagen Sie's schon.

M.: Ja was denn bloß?!

G.: Was in diesem Gebäude hier früher drin war.

M.: Daran ist nichts Geheimnisvolles, verschiedene Versorgungseinrichtungen waren hier drin, Frisör, Blumengeschäft ... Einkaufsmöglichkeiten eben und die Reisestelle zum Beispiel, und dann auch noch die Gastronomie ...

G.: Ausschließlich für die Mitarbeiter des MfS?

M.: Ja. Also, da war die Kantine für den einfachen Mitarbeiter sozusagen und gastronomische Einrichtungen für die Offiziere und Gäste von Dienstkonferenzen und extra Räume für die Generalität, wie das ja überall üblich ist.

G.: Und der große Kinosaal?

M.: Zum einen fanden hier Filmvorführungen statt, das Filmmaterial war natürlich rein dienstlicher Art... Dann gab's aber auch große Feier- und Festveranstaltungen für ganze Diensteinheiten.

G.: Was wurde da beispielsweise gefeiert?

M.: Nun, beispielsweise die Rückkehr von Günter Guillaume. Zu diesem Anlaß gab es im Februar 1987 damals eine große Festveranstaltung im Kinosaal und die Vorführung eines Dokumentarfilmes über Guillaume... So, ich muß weiter!

Mit bedauerndem Achselzucken verschwindet er im Gedränge.

Am Stand für Pornofilme der Hardcoresorte patrouilliert eine Domina. Sie trägt Berufskleidung und hält die Neugierigen mit strengen Blicken in Schach. In ihrer Kaffeepause erzählt mir Domina C. ein wenig über den Berufsalltag. Sie lebt und arbeitet in einer norddeutschen Universitätsstadt.

„Für mich ist die Arbeit am Stand hier das, was für andere Leute Golf oder Tennis ist: reine Erholung! Und wissen Sie, weshalb? Im Studio mache ich vor allem psychologische Arbeit, das ist um vieles härter, besonders wenn man teilweise sehr schwierige und anspruchsvolle Gäste hat. Ahnungslose denken vielleicht: Domina, toll! Wenig Arbeit, schnell viel Geld verdienen. Es gibt junge Frauen – Studentinnen und Hausfrauen –, die zieh'n sich Stiefel und Leder an und sagen: So, ich bin jetzt Domina! Die haben vielleicht mal in die „Venus im Pelz“ hineingeguckt, ein bißchen bei De Sade oder in der „Geschichte der O“ geblättert, schon wissen sie Bescheid. Gerade unlängst hab' ich hier auf der Messe mit einer Frau aus Hamburg gesprochen, sie wurde mir als Domina vorgestellt. Als ich sie fragte, worauf sie spezialisiert ist, hat sie schnippisch gesagt: ,Na, auf alles!‘ – Ich fragte: ,Was ist nun, wenn einer mit dir ins Bett will?‘ Und sie antwortete: ,Warum nicht, wenn er ordentlich löhnt?‘ Das ist eine tolle Einstellung für eine Domina, wirklich!

Als ich angefangen habe, da gab's das noch nicht. Ich durfte mir nicht gleich die Stiefel anziehen, ich mußte ganz unten anfangen, erst Zofe, dann Sklavin und immer so weiter. Ich habe mich ganz mühsam hochgearbeitet zur Domina, habe meinen Beruf gelernt von der Pike auf, und ich nehme ihn ernst! Heute besitze ich längst meine eigenen Zofen und Sklaven und bilde auch aus. Ich selbst brauchte drei Jahre für meine gesamte Ausbildung. Da war dann das Klini

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sche mit dabei, denn ich übernehme ja viele Rollen, auch die von Arzt oder Schwester. Ich mache so alltägliche Behandlungen wie Einläufe, lege aber auch Katheter und gebe Spritzen. Also, das Spektrum geht hin bis zu kleinen chirurgischen Eingriffen und ähnlichem und fängt an, sagen wir mal in der Säuglingsecke, beim Windeln und Fläschchengeben. Und für jeden Zweck gibt's eigene Räume, wir haben sogar einen kleinen OP, in dem ich alle anfallenden blutigen Arbeiten mache... Natürlich ist alles hundertprozentig steril. Sie können bei mir im klinischen Bereich vom Fußboden essen! Ja, und dann ist da natürlich der normale Bereich, für das ganz gewöhnliche SM-Programm mit den üblichen Gewalt- und Fetischspielen für Flagellanten, Fetischisten u.ä. Sie sehen, ich habe da eine ziemlich weit gespannte, verantwortungsvolle Beschäftigung, und wenn ich meine Arbeit seriös machen will, dann muß ich mich ganz schön reinknien.

Und weil Sie gefragt haben wegen Grenzen... Ich will's mal so auf den Punkt bringen: Grenzen gibt es keine. Ich mache alles, im Rahmen meiner Regeln, selbst extreme Sachen, die der Gast anderswo so gut wie nicht bekommt. Da gehe ich mitunter sehr weit... Aber es gibt Sachen, die sind für mich absolut tabu: alle Sachen mit Behinderten, mit Kindern, mit Tieren. Hab' ich nie gemacht! Also, wenn's auf Kosten Wehrloser geht, die hergenommen und mißbraucht werden, da ist bei mir Schluß, da sage ich nein, egal, wieviel Geld geboten wird. Andere sehen das leider nicht so streng. Ich arbeite ausschließlich mit erwachsenen, mündigen Bürgern, die mich freiwillig aufsuchen. Das sind meine Regeln. Und ich bin da nicht deshalb so rigoros, weil das andere gegen Gesetze verstößt, nein, sondern weil ich dagegen bin. Dann sehnse mal, gegen Gesetze verstoße ich bei der Arbeit ja laufend: Freiheitsberaubung, Vergewaltigung und schwere Körperverletzung – also wenn's einer drauf anlegt. Aber ich habe mit Anwälten gesprochen – habe ja auch Anwälte, neben Richtern und Staatsanwälten, die zu mir kommen –, die haben mich ganz genau aufgeklärt. Ich habe mich abgesichert. Als Domina muß man eine starke moralische Persönlichkeit sein, verstehen Sie mich? Sonst kann man das gar nicht machen...“

Das Handy an ihrer Hüfte schlägt an:

„Hallo? Du, es ist schlecht im Moment, ich gebe gerade ein Interview, ja... Weiß ich noch nicht, ich sage Bescheid, ja, ich melde mich...“

Sie hat keinerlei Mühe, den Faden wieder aufzunehmen:

„Ich meinte nicht nur wegen der psychischen Belastungen, sondern auch wegen der Glaubwürdigkeit. Man respektiert mich nicht für meine Stiefel und meine Preise, sondern weil ich die Herrin der Lage bin, sage ich mal. Der Gast vertraut sich mir an, und ich muß immer genau sehen, daß ich die abgesprochenen Regeln einhalte und sie trotzdem breche. Denn man erwartet von mir ja nicht, daß ich ein Programm durchziehe, automatisch, man erhofft sich phantasievolle Aktionen, überraschende Varianten, Verschärfungen. Das können winzige Kleinigkeiten sein, zum Beispiel lege ich manchmal zwischendrin einfach die Peitsche hin und schweige. Das ist für manche eine schlimmere Folter, als wenn ich doppelt so fest zugeschlagen hätte. Und das ist es auch, was ich anfangs meinte mit der härteren Arbeit im Studio, das ist das psychologische Spiel. Es geht um den Akt im Kopf. Das Entscheidende spielt sich nicht auf dem Körper, sondern im Kopf ab, gerade bei alten, erfahrenen Gästen, da wird oft kein Wort mehr gesprochen. Was da sich abspielt, das muß eine gute Domina genau wissen. Diese Hausfrauendominas können deshalb so fröhlich loslegen, weil sie keine Ahnung haben von der grenzenlosen Verantwortung...

Aber es hat auch mit dem anderen Punkt zu tun, Sie können das hier auf der Messe gut sehen, wie der ganze Sadomaso-Bereich auch das ganz normale bürgerliche Privat- und Sexualleben erobert hat. Erst war's nur eine Mode, jetzt fangen die Leute an, sich daran zu gewöhnen. Wir merken das natürlich, aber nicht am Rückgang, sondern am Zulauf von Gästen! Leute, die früher nie gekommen wären, weil sie früher gewußt hätten, daß so was für sie gar nicht in Frage kommt, die sind heute verunsichert und rennen uns die Türen ein. Und meist sind das eben Leute, die gleich bei der ersten Sitzung weinen und abbrechen wollen, weil's weh tut! Also, ich will's mal so sagen: Früher kamen zu uns viele Gäste mit ganz klassischen Wünschen und einige mit teilweise sehr ausgefallenen Wünschen und Vorstellungen. Aber sie hatten ihre persönliche Sache entwickelt, jeder wußte doch mit schlafwandlerischer Sicherheit über sich Bescheid. Heute ist das uniformer, das Persönliche tritt zurück, und was früher von Ausnahmefällen verlangt wurde, gehört heute sozusagen zur Erstversorgung. Nehmen wir mal das Piercing. Man kommt mit dem Piercen gar nicht nach! Und jedesmal verbreiten sich die Sachen schneller. Zuerst hat Hamburg das Tätowieren angefangen, es hat dann eine ganze Weile noch gedauert, bis sich landauf, landab alle dafür interessierten. Das gibt's heute überall. Dann kam Piercing dazu und hat sich rasend schnell verbreitet. Genauso ist es mit branding, was momentan dazukommt. Und das Allerneueste ist cuting. Absolut im Trend ist momentan wie gesagt branding, das Zeichnen mit glühenden Brandeisen. Das mache ich auch. Ich habe einen sehr guten Schmied gefunden in Niedersachsen, der führt Entwürfe aus, richtig künstlerisch, Zeichen, Monogramme, alles. Ich habe ja einerseits Leibsklaven mit eigenem Sklavenvertrag, für die das also in Frage kommt, aber zunehmend wollen die unterschiedlichsten Gäste nur noch das eine: Brandzeichen. Und als nächstes, das zeichnet sich schon ab, kommen alle und wollen geschnitten und geritzt werden. Es sollen sich dann Schmucknarben bilden auf der Haut, das geht vom Gesicht an abwärts. Aber was bei Schwarzen seit Ewigkeiten Tradition ist und gut aussieht, das muß auf weißer Haut nicht automatisch auch gut aussehen. Wenn das nicht vorsichtig und perfekt gemacht wird, bekommen die Leute rote, polsterförmige Vernarbungen, aber das wird alles in Kauf genommen. Es ist ja eigentlich Wahnsinn, was die Leute so verlangen, auch was sie sich selber zumuten, es wird ja immer extremer, sag' ich mal. Das Extremste, was ich in meiner ganzen Berufspraxis gemacht habe, war, den Hodensack eines älteren Mannes aufzutrennen, auszuleeren, zu füllen und wieder zuzunähen. Es war sein sehnlichster Wunsch. Das waren mal eher die Ausnahmen, solche Wünsche, heute kommt der Familienvater und möchte von oben bis unten aufgeschlitzt werden, sag' ich mal, und das ein paarmal am Tag. So was ist, ehrlich gesagt, schon erschreckend!“

Im Kinosaal hat gerade der dritte „Showblock“ begonnen. Vis à vis vom Bühneneingang klebt ein Zettel: „Ihre Jugendweihe auf Video, eine bleibende Erinnerung für nur 55,–DM.“ Dafür hat aber hier kaum jemand einen Sinn, momentan. Das versammelte Interesse im gut gefüllten Saal richtet sich auf die Bühne, auf der zu ohrenbetäubenden Technorhythmen eine S/M-Pantomime vorgeführt wird. Routiniert peitscht der leicht mit Lederriemchen und Ketten bekleidete Held seine konvulsivisch sich windende Partnerin vor sich her. Die Höhepunkte der Show finden kriechend bzw. am Bühnenrand liegend statt, weshalb das hinten sitzende Publikum kaum noch etwas sieht und nach vorne stürzt, wo es aber bereits wimmelt von Männern, die aus ihrer Froschperspektive heraus glotzen, filmen und fotografieren, behindert von anderen, die vor ihnen stehen in der ersten Reihe und auch außer Rand und Band sind. Durch den oberen Eingang kommt der Stasimann. Er hat irgendwas Längliches, Durchsichtiges, aus Plexiglas vielleicht, in der Hand, es ist nicht zu erkennen, was das sein soll. Er bleibt im Gang stehen, nahe der offenen Tür. Das Licht von draußen fällt auf seinen Rücken, der schmale Mantelkragen ist immer noch aufgestellt und preßt sich hinein in den Nackenspeck und die aufgestellten feuchten Härchen.

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