■ Heute tagt in Berlin die Nato-Führung. Die entscheidende Frage wird dabei ausgespart: Brauchen wir die Nato noch?
: Das transatlantische Bündnis auf der Suche nach einer neuen Aufgabe

Normalerweise läuft Politik so, daß zunächst ein Problem auftritt, für das dann eine Lösung gesucht wird. Mit der Nato verhält es sich umgekehrt: Sie ist die Lösung, und sie sucht ihr Problem.

Das Problem gab es einst, und ihm verdankt die größte Militärallianz der Geschichte ihre Gründung. Die im darniederliegenden Nachkriegseuropa robust agierende Sowjetmacht konnte von allen, die ihrer Herrschaft entkommen waren, mit einigem Grund als aggressive Bedrohung empfunden werden. Doch damit ist es schon eine Weile vorbei. Der Moskauer Staat schmolz zusammen an Menschen und Territorium, an Waffen und Wirtschaftskraft. Es hat sich ausbedroht in Europa – mit hoher Wahrscheinlichkeit unwiderruflich.

Jede seriöse Sicherheitsanalyse hätte damals fragen müssen: Was ist übriggeblieben an militärischer Gefährdung, welche Risiken existieren noch und wie baut man sie ab? Aber gefragt wurde ganz anders: Wir haben dieses vorzügliche, erfolgreiche militärische Bündnis, was machen wir jetzt damit? Fünf Jahre ist darüber transatlantisch dialogisiert worden. Das „Berliner Signal“ weiß nun die Antwort: Krisenbewältigung in ganz Europa und darüber hinaus.

Sagen wir nicht vorschnell, so etwas brauche man gar nicht in Europa. Wenn bis heute die verfeindeten Bevölkerungsgruppen in Bosnien zähneknirschend die vereinbarte Waffenruhe einhalten, dann nicht zuletzt deshalb, weil es zwischen ihnen die schwerbewaffnete Pufferzone gibt. Diese Überwachungsmaßnahme ist in erster Linie eine friedenserhaltende Mission nach klassischem UNO-Vorbild. Sie kann jedoch augenblicklich in Friedenserzwingung übergehen, sollte eine der Konfliktseiten gegen die Pflicht zum Gewaltverzicht verstoßen. Die drei Kontrahenten selbst haben es so unterschrieben. Warum muß ausgerechnet die Nato diese Mission wahrnehmen? Weil niemand sonst dazu in der Lage ist, könnte die Antwort lauten. Sie wäre nicht einmal falsch, aber höchst vordergründig.

Die Nato ist ein militärisches Bündnis zur kollektiven Selbstverteidigung ihrer Mitglieder und für andere Aufgaben weder geschaffen noch zuständig. Daß andere, sowohl zuständige wie leistungsfähige Sicherheitsorganisationen, nicht zur Verfügung stehen, geht auf das Überlebensproblem des westlichen Bündnisses zurück. So ergibt sich ein Kreis. Solange die Nato existiert – wie soll sich da eine alternative Organisation legitimieren? Solange es aber keine alternative Organisation gibt, kann die Nato sich darauf berufen, daß außer ihr ja niemand in der Lage ist, friedenserhaltende und -schaffende Einsätze militärisch effektiv zu bewerkstelligen.

Der verstorbene ehemalige Generalsekretär Manfred Wörner hat die schwierige Situation des transatlantischen Bündnisses so umschrieben: Man könne die Allianz auf zweierlei Weise ruinieren – indem man ihr neue Aufgaben vorenthalte oder sie zu einem System kollektiver Sicherheit umbaue. Will etwa jemand die Nato ruinieren? Also braucht sie erstens neue Aufgaben und darf zweitens kein System kollektiver Sicherheit werden.

Daß sie als Zweck- und Interessenorganisation ihrer Mitglieder der angemaßten Rolle des „Fundaments jeder Friedensordnung in Europa“ nicht gewachsen ist, hat sie schon unter Beweis gestellt. Das Beispiel ist wiederum der jugoslawische Kriegsschauplatz. Eine imposante Drohkulisse aufbauen, Flugzeugträger zusammenziehen, Luftschläge und Raketenangriffe ausführen? Alles kein Problem für einen Militärapparat, der sein Handwerk beherrscht.

Was die Nato indessen nicht kann, ist anders zu handeln als ein Bündnis nun mal handeln muß: interessengebunden und parteilich. Der Vergleich von Sarajewo 1995 mit Sarajewo 1914 war so abwegig nicht. Was wäre geschehen, hätte Rußland ebenso einseitig wie der Westen die eine Kriegspartei unterstützt und die andere bombardiert?

Die Anwendung physischen Zwangs, das schärfste der völkerrechtlich zulässigen Sanktionsmittel gegen Friedensbrecher, wollten die Gründerväter der Vereinten Nationen weder den Mitgliedstaaten noch irgendwelchen regionalen Organisationen überlassen. Nur der Sicherheitsrat, das oberste Entscheidungsgremium der Weltorganisation, darf militärische Sanktionen verhängen und muß sie dann auch selbst ausführen. Die Delegation der Befugnis an Dritte sieht die Charta der Vereinten Nationen nicht vor.

Herrschende Praxis ist das schon längst nicht mehr. Unter dem Druck ihrer einflußreichsten Mitglieder operiert die UNO beständig an der eigenen Satzung vorbei. Wo sie gehalten wäre, eigenverantwortlich zu handeln, erteilt sie Mandate – von der Blankovollmacht zum Golfkrieg über die Ermächtigung zum bewaffneten Vorgehen in Somalia bis zur Autorisierung der Einsatzpläne in Jugoslawien, die nicht sie entwarf, sondern die Nato ihr zulieferte.

Der vielleicht symbolträchtigste Akt des Balkankrieges war die „Übergabe der Autorität“ vom Kommandeur der UNO an den Befehlshaber der Nato. Von diesem Tag an – und nicht etwa ab Unterzeichnung des Dayton-Abkommens – rechnen die Fristen, die den einzelnen Umsetzungsschritten gesetzt sind. Eine neue Zeitrechnung begann. Die Vereinten Nationen, der Hoffnungsträger des weltpolitischen Umbruchs von 1989 in Sachen Frieden und internationaler Sicherheit hat abgedankt.

Die Frühjahrstagung der Nato, die heute in Berlin stattfindet, soll den erweiterten sicherheitspolitischen Anspruch in eine geschmeidigere Militärstruktur übersetzen. Mehr Flexibilität, mehr Effizienz sind die Stichworte. Künftig werden einzelne Bündnisstaaten auf gemeinsame Kommandoeinrichtungen und Einsatzverbände auch dann zurückgreifen können, wenn nicht alle Verbündeten eine Operation mittragen wollen. Der Schritt kommt den Europäern und vor allem Frankreich entgegen, das sich nach gut dreißigjähriger Abwesenheit wieder in den Planungsrahmen der Allianz eingliedern will.

Von jenseits des Atlantiks dringen erste Andeutungen über die von den Europäern erwartete Gegenleistung: Man solle freimütiger über den engen Horizont des angestammten Vertragsgebiets hinausblicken, und ein förmliches Plazet aus dem New Yorker UNO-Quartier sei auch nicht in jedem einzelnen Fall unabdingbar. Und das bedeutet in letzter Konsequenz: das transatlantische Bündnis verwandelt sich zukünftig in einen sich selbst mandatierenden militärischen Dienstleistungsmulti, Unternehmensbereiche: Intervention – the brave new Nato. Reinhard Mutz