Viereinhalb Monate nach der Brandkatastrophe von Lübeck hat die Staatsanwaltschaft die Anklage gegen den mutmaßlichen Brandstifter fertig. Während die Staatsanwälte von dem dringenden Tatverdacht gegen Safwan E. überzeugt sind, sind während der Ermittlungen zahlreiche Ungereimtheiten und Zweifel bekanntgeworden. Aus Lübeck Kersten Kampe

Brandstifter oder selbst ein Opfer?

Die Staatsanwaltschaft spricht zwar von schwieriger Beweislage, ist aber zum jetzigen Zeitpunkt davon überzeugt, den Schuldigen für den Brandanschlag von Lübeck zu haben. In den vier Monaten seit dem 18. Januar 1996 haben Polizei und Anklagebehörde Mosaikstein um Mosaikstein zusammengetragen. Das Ergebnis der Ermittlungen: Der Libanese Safwan E. wird angeklagt wegen besonders schwerer Brandstiftung. Der noch im Haftbefehl erhobene Mordvorwurf wurde fallengelassen.

Die Vorwürfe der Anklage stützen sich hauptsächlich auf die Aussage eines 25jährigen Rettungssanitäters. Safwan E. soll ihm gegenüber in der Brandnacht gesagt haben, „wir waren es“. Außerdem soll er dem Sanitäter Einzelheiten des Tathergangs geschildert haben.

Dieses Täterwissen wurde später in Gutachten von Brandsachverständigen des schleswig-holsteinischen Landeskriminalamtes und des Bundeskriminalamtes bestätigt. Danach entstand der Brand im ersten Obergeschoß durch einen Brandbeschleuniger. Weiter hieß es, durch die Zufuhr von Sauerstoff nach dem Öffnen von Fenster und Türen hätte sich das Feuer auf das gesamte Gebäudeinnere ausgebreitet.

Für die Anklagebehörde ist der 25jährige Sanitäter glaubwürdig. Plausibel scheint den Staatsanwälten auch die Begründung, warum der Hauptbelastungszeuge erst mehr als 24 Stunden nach der Tat zu ihnen kam. Zum einen hatte der Mann angenommen, daß er der Schweigepflicht unterlag, zum anderen galten am Tattag vier junge Männer als Tatverdächtige; sie waren einen Tag nach ihrer Festnahme wieder auf freien Fuß gesetzt worden, da sie ein Alibi hatten. Weiteres Indiz für die Glaubwürdigkeit des Mannes ist wohl auch, daß er trotz Angst vor Vergeltungsmaßnahmen und erforderlichem Polizeischutz bei seiner Aussage geblieben ist.

Mosaiksteine für die Belastung sind auch die Gutachten, die einen Brandanschlag von außen ebenso ausschließen wie einen Brandausbruch durch einen technischen Defekt, da sich in der Nähe des Ausbruchortes keine technischen Anlagen befanden.

Nicht weit gekommen sind die Ermittlungsbehörden dagegen bei der Suche des Motivs. Nur angekratzt wurde, warum Safwan E. Feuer in dem Haus, in dem er mit seiner Familie lebte, gelegt haben könnte. Im ersten Haftbefehl ist von einem Streit mit einem Hausbewohner die Rede, bei der ersten Haftprüfung wurde dann nur noch allgemein von Streit in dem Haus gesprochen.

Die Fahnder griffen zu einem umstrittenen Mittel: dem Lauschangriff. Im Februar wurden sechs Gespräche zwischen dem Beschuldigten und seinen Besuchern im Knast abgehört. Für die Anklagebehörde war die Aktion von Erfolg gekrönt: „Der dringende Tatverdacht hat sich erhärtet“, hieß es, nachdem der Lauschangriff durch eine Indiskretion bekanntgeworden war. Unter anderem sollen Besucher erklärt haben, daß die Aussagen mit den anderen Hausbewohnern abgesprochen seien, ihm nichts zu beweisen sei. Safwan E. soll gesagt haben, er habe seine Fehler erkannt, die er in dem Gebäude gemacht habe.

Auch über das mögliche Motiv gewannen die Ankläger Erkenntnisse: In den Gesprächen wurden rassistische Züge offenbart. Safwan E. und Familienangehörige benutzen für Schwarzafrikaner das Wort Sklaven, kein Wort der Trauer für die Opfer schwarzer Hautfarbe, sondern nur für den Libanesen. Später wurde bekannt, daß Geschwister des Verdächtigen in der Schule ebenfalls durch rassistische Äußerungen aufgefallen waren.

Mehrfach hat die Staatsanwaltschaft betont, daß sie auch zugunsten des Angeklagten ermittelte. Der Vorwurf des zehnfachen Mordes wurde fallen gelassen, dem Beschuldigten sind niedrige Beweggründe nicht nachzuweisen. Im Gegenteil, es wird inzwischen davon ausgegangen, daß Safwan E. nicht bewußt Menschen töten wollte. Wie es heißt, nimmt die Anklagebehörde an, daß der Beschuldigte vermutlich selbst nicht geahnt hat, was sich aus einem kleinen Brand entwickeln würde. „Es ist ihm aus der Hand geglitten“, so ein Ermittler, „sonst wäre er ja sicher – wie angegeben worden sein soll – nicht wieder ins Bett in seinem unter dem Dach gelegenen Zimmer gegangen.“

Unklarheiten gibt es auch um das Alter des Beschuldigten. Zunächst war die Staatsanwaltschaft davon ausgegangen, daß Safwan E. 21 Jahre alt sei; dieses Alter wiesen die Einreisepapiere aus, und das soll der Beschuldigte auch selbst angegeben haben. Die Verteidigung hat nun ein Dokument aus dem Libanon vorgelegt, nach dem Safwan E. zum Tatzeitpunkt 20 Jahre alt gewesen wäre und somit als Heranwachsender unter das Jugendstrafrecht fiele.

Rückenstärkung für ihre Bewertung der Ermittlungen erhielten die Vertreter der Anklagebehörde zudem durch drei Haftprüfungen. Zuletzt hatte Ende April eine große Strafkammer des Landgerichts Lübeck die Haftbeschwerde der Verteidigung verworfen. Dennoch betonen die Ankläger, entscheidend werde die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung sein.

Bereits kurz nach der Verhaftung von Safwan E., zwei Tage nach der Lübecker Brandkatastrophe, wurden Zweifel an dem dringenden Tatverdacht gegen den Libanesen laut. Wie kann ein Mann das Haus, in dem seine Familie wohnt, anzünden, so die Frage, die die Medien beschäftigte.

Nachdem 1994 in Lübeck eine Synagoge aus rechtsradikalen, antisemitischen Motiven angezündet worden war, im nahe gelegenen Mölln 1992 drei Türkinnen bei einem rechtsradikalen Brandanschlag ums Leben kamen, fiel es sichtlich schwer zu glauben, daß die Brandkatastrophe in dem Lübecker Asylbewerberheim keinen politischen Hintergrund haben sollte. Zumal am Tattag vier junge Männer aus Grevesmühlen festgenommen worden waren, die der rechtsradikalen Szene zugerechnet wurden. Auch die mageren ersten Ergebnisse, die die Staatsanwaltschaft präsentierte, ließen Freiraum für Zweifel und Spekulationen.

Zum Kronzeugen für die Medien wurde der Frankfurter Brandschutzexperte Ernst Achilles. Bereits Wochen, bevor er im Auftrag der Verteidigung die Brandruine begutachtete, säte Achilles anhand von Aussagen von Hausbewohnern und Feuerwehrmännern Zweifel an der Version der Staatsanwaltschaft. Nach der Besichtigung des Tatortes erklärte er, der Brand könne auch von außen gelegt worden sein und nicht auszuschließen sei, daß der hölzerne Vorbau im Erdgeschoß als Brandausbruchsort in Frage komme. So ermittelte Achilles unter anderem, daß Benzin als Brandbeschleuniger bergauf hätte fließen müssen.

Fernsehmagazine und Zeitschriften beriefen sich aber nicht nur auf den Brandschutzexperten, sondern auch auf Aussagen von Hausbewohnern, Familienangehörigen und Verteidigung. Alle machten sich akribisch ans Werk, um Ungereimtheiten aufzudecken. Für Streit im Haus, wie die Staatsanwaltschaft als Motiv im Haftbefehl festschrieb, fanden sich vor Mikrophonen und Kameras keine Zeugen. Der Run auf die Zweifel ging richtig los, als die Anklagebehörde als Begründung für den Lauschangriff auf Safwan E. in der Besucherzelle erklärte, aufgrund der erkennbaren Vorbehalte früherer Hausbewohner gegenüber den Ermittlungsbehörden sei die weitere Tataufklärung erheblich beeinträchtigt worden; die weitere Erforschung des Sachverhaltes wäre auf andere Weise wesentlich erschwert worden.

Für viele ein Eingeständis der Hilflosigkeit. Für linke Gruppen ein willkommener Anlaß, der Behörde Einseitigkeit vorzuwerfen. Technische Schwierigkeiten bei der Abhöraktion sowie bei der Übersetzung aus dem Libanesischen wurden bekannt. Für die Verteidigung wurden belastende Aussagen nur falsch übersetzt – ähnlich klingende Worte, die aber verschiedene Bedeutung haben. Auch die Aussage des Rettungssanitäters wurde in Zweifel gezogen. Er müsse sich verhört haben, nicht „wir“, sondern „die waren es“, soll Safwan E. gesagt haben.

Ähnliches sollen andere Zeugen vorher gehört haben. Der Vater wurde zitiert mit der Aussage, er habe das Gartentor klappen gehört und dann eine kleine Explosion. Ungeklärt ist auch, weshalb der tote Mann aus Togo, der im Hausflur gefunden wurde, nicht die für Brandopfer typischen Vergiftungserscheinungen hatte und sein Leichnam auch keine äußeren Verletzungen aufwies.

Zweifel an der Arbeit der Ermittlungsbehörden schürte auch, daß womöglich das Alter von Safwan E. nicht korrekt ermittelt wurde. Er ist nach Ansicht der Verteidigung 20 statt 21 Jahre alt. Die kurz nach der Tat verdächtigen vier jungen, vermutlich aus der rechtsradikalen Szene stammenden Männer aus Grevesmühlen kamen ebenfalls wieder ins Spiel, als bekannt wurde, daß drei von ihnen Brandverletzungen gehabt hätten.

Die Erklärungen, die sie dafür abgegeben haben sollen, klingen fast märchenhaft. Die Spuren seien entstanden, als sie einige Tage zuvor einen mit Haarspray besprühten Hund angezündet hätten. Laut Die Woche stehen dem die Ergebnisse einer gerichtsmedizinischen Untersuchung entgegen, nach der die Brandspuren frisch waren. Dennoch haben die Männer laut Staatsanwaltschaft ein Alibi; eine Polizeistreife hatte sie kurz vor Brandausbruch an einer mehrere Kilometer weit entfernten Tankstelle gesehen.

Als die Zweifel immer lauter wurden, gründete sich Ende April auf Initiative der Verteidigung eine unabhängige Kommission mit Anwälten und Menschenrechtlern aus fünf Staaten, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Ermittlungen kritisch zu begleiten und bei der Wahrheitsfindung zu helfen. Sie erklärte: „Wir gehören zu den Menschen in Europa, die mehr und mehr alarmiert sind von den Nachrichten, die aus Deutschland kommen. Wir fragen uns, wie kann es möglich sein, daß in Deutschland Ausländer angegriffen werden, daß wieder Synagogen brennen und Flüchtlingsheime angezündet werden. Nun hören wir, daß die Staatsanwaltschaft die Brandstifter und Mörder nicht mehr bei den Rassisten und anderen fremdenfeindlichen Gruppen sucht, sondern eine Person verhaftet hat, deren Familie selbst bedroht ist.“