: Poetische Delikatessen aus der Revolution
Flugmaschinen, Rednerbühnen, Stilleben – alles dient der Erziehung des neuen Menschen. Das Münchner Haus der Kunst zeigt russische Avantgarde aus der Sammlung von George Costakis. Sein Motto: Sammeln heißt finden ■ Von Vera Botterbusch
„Man muß den Mut haben, seine ganze schöpferische Entwicklung zu offenbaren und dabei nichts zu verbergen, nicht die Fehler, die falschen Anfänge und auch nicht die Irrwege... Zahlreiche Künstler zerstören ihre mittelmäßigen Werke aus Ängstlichkeit und rühmen sich dann, schon immer die Künstler gewesen zu sein, die sie jetzt sind. Man muß den Mut besitzen, alle diese Werke aufzubewahren, und auch den noch größeren Mut, sie zu zeigen, ohne sich zu schämen, indem man stolz erklärt: ,Hier sieht man meine Irrwege, und hier, mit meiner gegenwärtigen Arbeit, bin ich auf dem richtigen Weg.‘“
Das künstlerische Credo von Alexander Rodtschenko ist dem Kunstsammler George Costakis Absicht und Verpflichtung beim Aufbau einer Kunstsammlung gewesen, die er mit akribischer Leidenschaft auf die russische Avantgarde konzentriert hat. Zunächst in den vier Wänden seiner Moskauer Wohnung am Wernadski- Prospekt 12 angesiedelt, waren die Besitztümer Costakis' eine Attraktion für Eingeweihte. Später interessierte sich auch der Staat für die Kollektion: Was Costakis ab 1946 in müheseliger Recherche an Gemälden und Arbeiten auf Papier von jenem großen künstlerischen Aufbruch im vor- und nachrevolutionären Rußland zusammengetragen hat – zu einer Zeit, als diese Kunst in der damaligen UdSSR eher verpönt war –, ging 1977 zu einem Teil als Schenkung an die Moskauer Tretjakow-Galerie, um ihm mit dem Rest der Sammlung die Übersiedlung in seine elterliche Heimat, nach Griechenland, zu ermöglichen.
Selten ist es einem Sammler gelungen, in so vollständiger Weise eine Kunstepoche zu dokumentieren wie Costakis die russische Avantgarde – vor allem, weil er nicht nur nach den spektakulären Bildern, den stiltreibenden Highlights Ausschau gehalten hat. Möglicherweise hat ihn gerade in einer Zeit der sozialistischen Erstarrung und der totalitären Repression jene frühere Aufbruchsstimmung interessiert, jener Blick auf eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen, wie sie vor und nach der Oktoberrevolution 1917 die russischen Künstler und Intellektuellen beflügelte.
Nun werden die Arbeiten nach dem Tod von George Costakis im Jahr 1990 zum erstenmal wieder zusammengeführt und in einer Auswahl von über 500 Werken gezeigt. Zunächst in Athen, jetzt in München, dann im finnischen Tampere und voraussichtlich auch in Paris. Damit findet nicht bloß einer der bedeutendsten Kunstsammler dieses Jahrhunderts eine späte Würdigung, sondern auch eine mehr als vielgliedrige Kunstepoche, die für die Entwicklung der Moderne richtungweisend war.
Natürlich hat man eine feste Vorstellung von der russischen Avantgarde, angefangen bei den Futuristen über die Suprematisten bis zu den Konstruktivisten. Denkt man an Namen wie Malewitsch und Tatlin, Lissitzky und Popowa – oder an die schon zu Beginn der zwanziger Jahre in den Westen übersiedelten Maler wie Kandinsky und Chagall. Die Münchner Ausstellung zeigt, wie der geradezu elementare schöpferische Impuls der russischen Avantgardekünstler durch die thematische Dichte dieser umfangreichen Zusammenschau herausgefiltert wird. Es ist fast so etwas wie eine Heilsbotschaft, die jene russischen Künstler an der Schwelle zu einer neuen Zeit miteinander verbindet, das Streben nach einer gesellschaftlichen Erneuerung, die sich in der kommunistischen Lehre Lenins manifestiert und ohne Wenn und Aber als verbindlich und zukunftweisend akzeptiert wurde.
Alle Kräfte zielen auf einen Endpunkt hin: die Geburt einer neuen Gesellschaft und eines neuen Menschen im sozialistischen Rußland. Daran zu glauben und dafür zu kämpfen war die Aufgabe aller. Auch der Künstler. Offensichtlich hat dieser übergeordnete Gesichtspunkt ungeheure Energien und Ideen freigesetzt. So bot der Futurismus für die russische Avantgarde keine rein ästhetische Orientierung, sondern stand im Dienst der Revolution. Eine neue Formensprache ist die Voraussetzung für einen neuen Menschen und dient seiner Erziehung.
Vor diesem Hintergrund erschließen sich viele Arbeiten der Sammlung Costakis in ihrem durchaus revolutionären Kontext, der zunächst beflügelte, dann aber zunehmend einengte, bis einige Künstler, gebremst durch die wachsenden Begrenzungen des sozialistischen Regimes, hinter ihre Entwicklungen zurückfielen. Es wird zum Beispiel verständlich, weshalb sich ein Wladimir Tatlin zeitweilig auf den unterschiedlichsten künstlerischen Gebieten wie Bühnenbild, Malerei und Flugmaschinen betätigte und dann nach 1930 zur traditionellen Porträtmalerei zurückkehrte. Ähnlich versuchte sich Ljubow Popowa zusammen mit Warwara Stepanowa als Textildesignerin und entwarf funktionelle Kleidung für die Frau; und der „Produktivist“ Gustav Kluzis entwickelte in seiner „Werkstatt der Revolution“, wie er sein Atelier nannte, modernste Konstruktionen für Propagandazwecke, wie Rednerbühnen oder Lautsprechertribünen.
Doch das ist nicht alles. Costakis hat eben nicht nur schon bekannte Namen gesammelt, er hat Entdeckungen gemacht, viele Künstler vor dem Vergessen und ihre Werke vor der Vernichtung gerettet. Aristarch Lentulow etwa überrascht mit Landschaftsstudien, die an Cézanne erinnern, Pawel Filonow mit einem „analytischen“ Bild zu Schostakowitschs erster Symphonie; die Geschwister Ender verblüffen mit abstrakten Farbkompositionen zum „erweiterten Sehen“. Ein Maler wie Alexander Drewin fällt mit einer eigenwillig rot-orangen Farbstudie von 1920 auf und tristen Landschaften von 1930, die sehr heutig wirken. Dazwischen Kliment Redko mit „luministischen“ Revolutionsikonen.
Die meisten Werke hat Costakis, oft auf abenteuerliche Weise, von den Witwen oder Familien der betreffenden Künstler erworben, mit jenem Gespür für ihre Bedeutung, die seinen besonderen Kunstsinn zeigt. So spiegelt sich in der Gegenüberstellung eines ganz frühen Stillebens der Popowa mit ihren späteren Arbeiten auch die künstlerische Entwicklung hin zu konstruktivistischer Bildgestaltung; bei Iwan Kljuns kann man das Werk bis in die symbolistischen Anfänge zurückverfolgen. Daneben bilden die Papiercollagen von Olga Rosanowna eine kleine poetische Delikatesse im Ensemble der Sammlung, ebenso wie die „Maiglöckchen“ von Chagall und der „Rote Platz“ von Kandinsky. Die Entdeckungen nehmen kein Ende.
Bis zum 4. August im Münchner Haus der Kunst; der umfangreiche Katalog kostet 78 DM
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