Ein Ex-Verbissener genießt

Nach dem Sieg über Titelverteidiger Muster: Michael Stich will auch im heutigen French-Open-Viertelfinale „spaßorientiert“ spielen  ■ Aus Paris Karl-Wilhelm Götte

„Es gibt solche Tage“, ist der gemeinsame kleinste Nenner von Siegern und Verlierern bei den French-Open in Paris. Im Viertelfinale sind die großen Favoriten auf terre battue, auf der zur eigenwilligen roten Pariser Sandfarbe „geschlagenen Erde“, aus dem Rennen. Allen diesjährigen Seriensiegern auf Sand ging die Luft frühzeitig aus: den Spaniern, dem Chilenen Marcelo Rios und auch Titelverteidiger Thomas Muster.

Dafür besteht die spektakuläre Aussicht auf ein deutsches Halbfinale Stich gegen Karbacher am Freitag. Unwahrscheinlich? Alles scheint dieses Jahr in Paris möglich zu sein. Das sieht man schon daran, daß der Münchner Bernd Karbacher heute im Viertelfinale auf den ebenso aufschlagstarken, aber auch launigen Schweizer Marc Rosset trifft. Karbacher hatte am Dienstag den Kroaten Goran Ivanisevic in drei Sätzen (6:3, 6:1, 6:2) geradezu vom Platz gefegt. Ivanisevic war allerdings durch eine riesige Blase unter dem Fuß nachhaltig behindert.

Karbacher (28), der in diesem Jahr Erstrunden-Flops am laufenden Band produzierte und nie länger als zweimal bei einem Turnier auf dem Platz stand, hat nun bereits seinen fünften Auftritt in Paris. Im Tennis lägen Mißerfolg und Triumph ständig nahe beieinander, sagt er aus Erfahrung weise geworden. Manchmal sogar mehrmals am Tag. „Das ist nicht wie bei den Läufern, die eher erwartungsgemäß und nicht plötzlich auf 9,90 beschleunigen“, erklärt Karbacher, derzeitiger Weltranglistenplatz 56, seine Höhen und Tiefen.

„Das Match hat nicht er diktiert, sondern ich, aber ich habe es im entscheidenden Moment aus der Hand gegeben“, versuchte derweil der maßlos enttäuschte Titelverteidiger Thomas Muster seine Niederlage schönzureden. Der österreichische Topfavorit hatte gegen Michael Stich sein aggressives Spiel von der Grundlinie nicht aufziehen können. „Zu einfach hat er gespielt, zuviel Schablone, zuwenig Beinarbeit“, kritisiert sein Trainer und Manager Ronald Leitgeb: Der „erste und zweite Schlag hätte druckvoller und vor allem variantenreicher kommen müssen“, um einen Angriffsspieler wie Stich hinten halten zu können. Leitgeb war ebenso fassungslos wie sein Spieler, der während des Spiels immer wieder entnervt den Blickkontakt mit ihm aufnahm: „Es gibt Dinge, die sind nicht steuerbar an solchen Tagen.“

Thomas Muster wird „jetzt Gras fressen“ und erstmals zur Vorbereitung auf Wimbledon in drei Wochen zwei Vorbereitungsturniere spielen. Michael Stich aber freut sich seines Lebens, dämpft jedoch nach wie vor alle Erwartungen, er werde nun das Finale erreichen. „Ich werde versuchen, meine Form beizubehalten, mich aber nicht unter Druck setzen.“ Noch legt er Wert „auf spaßorientiertes Spielen“. Die doppelte Sprunggelenkverletzung war dabei offenbar sein Schlüsselerlebnis („ich habe jahrelang viel zu verbissen gespielt“), um nicht nur seine Vorhand umzustellen, sondern auch seine gesamte Einstellung auf dem Platz. Dazu kommt: In diesem Jahr hat der vormalige Dauerspieler erst 14 Spiele gemacht, und dementsprechend frisch gleitet er über den Court.

Michael Stich ist inzwischen 27 und derzeit nur noch auf Weltranglistenposition 16 plaziert. Und mutiert nun vom Elmshorner Nörgler zum Sympathieträger? Seine immer wieder eingestreuten genialen Schläge helfen ihm dabei. 1991 erreichte Stich das Semifinale in Paris – und gewann danach Wimbledon.

„Ich spüre, daß ich jetzt besser spiele als vor ein, zwei Jahren“, meint er und rechnet sich heute gegen den Franzosen Cedric Pioline und trotz 14.000 Zuschauern auf dessen Seite gute Chancen aus.

„Dem liegt mein Spiel wie Muster auch nicht“, frohlockt er gutgelaunt. Und der wieder eingeführte Logenkuß für die Frau Jessica ist das „Dankeschön für ihre Unterstützung in schweren Verletzungstagen“. Alles ist im Moment prima bei Michael Stich. Es gibt solche Tage.