Unangenehm aktuelle Beobachtungen

Die Reportagen, Kommentare und Polemiken, die Leo Trotzki zu den Balkankriegen von 1912 und 1913 geschrieben hat, sind erstaunliche Dokumente nicht nur ihres Autors wegen. Als zeitgenössische Texte, die Trotzki unter Pseudonym für eine Kiewer Tageszeitung verfaßt hat, sind sie von beachtlichem Quellenwert.

Daß sie auch aufschlußreicher sind als die damaligen Berichte englischer, französischer oder deutscher Korrespondenten, ist nicht nur auf Trotzkis klugen analytisch-historischen Blick zurückzuführen. Seinen besonderen Blickwinkel verdankt der ungewöhnliche Journalist auch dem Mißtrauen der bulgarischen Behörden gegenüber dem radikalen Wiener Exilrussen. Trotzki durfte nicht an die Front und mußte seine Eindrücke im wesentlichen in Sofia sammeln. Das war sein Glück, denn auf diese Weise traf er verwundete Soldaten und andere informierte Zeugen, von denen er viel mehr erfahren konnte als die Journalisten, die sich von den siegreichen bulgarischen und serbischen Heeren an die Front kutschieren ließen.

So kann Trotzki aus erster Hand – und erfreulich häufig in direkter Wiedergabe von Augenzeugenberichten – über die ungeheuren Grausamkeiten des damaligen Krieges Zeugnis ablegen. Und vor allem über die systematischen Verletzungen der erst fünf Jahre zuvor verabschiedeten Grundsätze der „Haager Landkriegsordnung“, die den modernen Krieg in Paragraphen mit humanitären Schutzklauseln bannen wollte. Entsetzt registriert er die systematische Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung, die wir heute als „ethnische Säuberungen“ bezeichnen würden. So ist es kein Zufall, daß Trotzkis Beobachtungen uns unangenehm aktuell vorkommen – etwa, wenn er über die Persönlichkeitsveränderung schreibt, die unbedeutende Männer überkommt, sobald man sie in eine Uniform steckt und ihnen imaginäre nationale Ziele einredet.

Daß Trotzki nur die Grausamkeiten des bulgarischen und serbischen Ethnokrieges bezeugen konnte, ist ihm als unfreiwillige Einseitigkeit selbst bewußt. Für ihn gibt es keinen Zweifel, daß die anderen Kriegsparteien nicht nur in demselben Geist, sondern auch mit denselben Mitteln kämpften. Für die griechische Armee zum Beispiel ist das völkerrechtswidrige Vorgehen gegen die „feindliche“ Zivilbevölkerung ähnlich eindrucksvoll in einem Bericht für die Carnegie-Foundation geschildert, der von einer internationalen Untersuchungskommission nach Kriegsende angefertigt wurde. Zusammen mit diesem Bericht sind die Trotzki-Schriften die lehrreichsten Dokumente über einen Krieg, dessen spezifische Grausamkeit nur deshalb in Vergessenheit geraten konnte, weil ihm die Material- und Massenschlachten des Ersten Weltkrieges auf dem Fuße folgten.

Und eine Ironie besonderer Güte liegt natürlich darin, daß sich hier der spätere Organisator der Roten Armee als Zeuge eines schmutzigen Krieges in kompromißloser pazifistischer Gesinnung präsentiert. Nils Kadritzke

Leo Trotzki: „Die Balkankriege 1912–13“. Aus dem Russischen von Hannelore Georgi und Harald Schubärth, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1996, 580 S., 48 DM