Seid nett zu Mr. Orton

„Oscar Wilde des Wohlfahrtsstaats“: Die Tagebücher des englischen Dramatikers Joe Orton gewähren intime Einblicke in die Roaring Sixties  ■ Von Rolf Spinnler

Das London der Roaring Sixties: Sozialdemokratie und Wohlfahrtstaat befinden sich im Zenit ihrer geschichtlichen Karriere; in Downing Street No. 10 residiert der Labour-Premier Harold Wilson. Das Fernsehen wird zum Massenmedium, die Popkultur verändert den Alltag und das Lebensgefühl einer ganzen Generation. Und der Shooting-Star der Londoner Theaterszene ist ein gewisser Joe Orton, der sich mit den Komödien „Seid nett zu Mr. Sloane“ (1964 uraufgeführt), „Die Beute“ (1965), „Verbrechen aus Leidenschaft“ (1967) und „Was der Butler sah“ (1969) bei der Theaterkritik den Titel eines „Oscar Wilde des Wohlfahrtstaats“ eingehandelt hat.

Auf Anregung seiner Literaturagentin beginnt Orton im Dezember 1966 ein Tagebuch zu schreiben. Die Agentin hatte dabei an ein „Journal à la Gide“ gedacht, zur späteren Veröffentlichung bestimmt. Doch Gides psychologisierende Selbsterforschung, die sich letztlich der Tradition religiöser Bekenntnisliteratur verdankt, war Ortons Sache nicht. In seinen Tagebüchern herrscht jener kühle, zynische Blick, der – gepaart mit schwarzem Humor – auch die Theaterstücke durchzieht: Das Leben ist nicht der Bildungsroman einer reflektierenden Seele, sondern eine Farce. Gerade diese Kälte, diese Fähigkeit zur Selbstdistanz, dieser Verzicht auf Psychologie machen aus dem Tagebuch mehr als nur eine Nabelschau. Wo es keine Seele gibt, wird der Blick frei auf die Welt diesseits und jenseits aller Innerlichkeit: den Körper und die sozialen und sprachlichen Rituale und Konventionen.

Ohne Selbstmitleid und falsche Scham, aber – im Gegensatz zu den 68ern – auch ohne heroisches Pathos und revolutionäre Illusionen dokumentieren Ortons Tagebücher jenen Lebensstil und Sozialcharakter, der sich am Ende der Moderne in den Metropolen herauszubilden beginnt: amoralisch und pragmatisch, illusionslos und zynisch. Darin liegt der objektive Gehalt dieses Journals. Man muß diesen Mann nicht sympathisch finden – und könnte ihn dennoch mit einigem Recht zu dem Chronisten der Roaring Sixties erklären.

„Samuel Pepys verschlüsselt alles, was sexuelle Dinge angeht, damit es keiner weiß“, bemerkt einmal einer von Ortons Bekannten, als sie über das Tagebuchschreiben reden. „Mir ist es egal, wer es weiß“, entgegnet Orton darauf. Tatsächlich ist Sex in seinen Tagebüchern – wie schon in seinen Stücken – ein zentrales Thema: Sex ohne Seele, ohne jede Beimischung von Leidenschaft, Innerlichkeit und romantischen Gefühlen. Da wird nicht wie bei Platen irgendein unerreichbarer Junge angeschmachtet; auch nicht, wie bei Thomas Mann, die Ambivalenz zwischen Gewissensqual und verbotenem Begehren lustvoll ausgekostet – nein, Orton versucht fast gewaltsam, den sexuellen Akt von allen emotionalen Beimischungen zu isolieren: „Ich hätte ihn schon ganz gerne gefickt. Er hat einen schönen Körper. Aber wenn Sex nicht mehr drin ist, kann er sehen, wo er bleibt. Ich habe sonst kein Interesse an ihm.“ (25.7. 1967)

Orton spielt ständig den harten, coolen, herzlosen Burschen, den nichts erschüttern kann. Er war stolz auf seinen durchtrainierten Körper, ließ den Programmheften zu Aufführungen seiner Stücke Aktfotos von sich beilegen und kokettierte damit, „der am besten gebaute Bühnenautor“ seiner Zeit zu sein. Die Gefängnisstrafe von sechs Monaten, zu der er 1962 zusammen mit seinem Lebensgefährten Kenneth Halliwell wegen des Diebstahls und der obszönen Verunstaltung von ausgeliehenen Büchern verurteilt worden war, betrachtete er als Lehrzeit, die seinem Leben eine neue Richtung gegeben hatte.

Vorher war er ein gescheiterter Schauspielschüler und dilettierender Schriftsteller, der von der Sozialhilfe lebte – nachher begann für den knapp Dreißigjährigen der Aufstieg zum skandalumwitterten Bühnenautor. „Ich habe nicht wie Oscar Wilde darunter gelitten, im Gefängnis zu sein. Aber Wilde war ja auch ohne Saft und Kraft und nachgiebig gegen sich selbst. Es gibt da einen Mythos, daß Schriftsteller wie empfindliche Pflanzen seien. Das stimmt nicht“, ließ Orton in einem Interview verlauten. „Die Zeit im Knast brachte die nötige Distanz zu dem, was ich schrieb. Ich war nicht mehr beteiligt, und plötzlich klappte es.“

Diese impassibilité prägt Ortons Werk ebenso wie sein Leben; ihr verdankt er seinen Erfolg, aber auch sein Scheitern. Denn mochte er auch die eigenen Gefühle erfolgreich in Schach halten – es gab da auch noch die der anderen. Vor allem die seines Lebensgefährten Kenneth Halliwell. Orton hatte den sieben Jahre Älteren 1951 auf der Schauspielschule kennengelernt; seitdem lebten die beiden zusammen. Ein ungleiches Paar, das sich jedoch zunächst wunderbar ergänzte. Halliwell hatte ein kleines Vermögen geerbt, verfügte über eine gute Schulbildung (er besuchte dasselbe Gymnasium wie Harold Wilson) und hatte hochfliegende literarische Ambitionen. So wurde er zum literarischen Mentor für den jungen Orton, der – nach eigenen Worten – „aus der Gosse“ kam, aus der Arbeiterklasse von Leicester, und sich begierig die ihm bislang verschlossene Welt der Literatur aneignete.

So flossen Halliwells klassische Bildung und Ortons proletarischer Charme und Aggressivität in die Werke ein, die sie gemeinsam verfaßten, ohne freilich einen Verleger dafür zu finden. Die Gefängnisstrafe trennte die beiden zum erstenmal; Halliwell unternahm einen Selbstmordversuch, während sich Orton von seinem Mentor zu emanzipieren begann. Ein Drama zeichnet sich ab wie in G.B. Shaws „Pygmalion“, wo das Straßenmädchen Eliza Doolittle ihrem Lehrmeister Professor Higgins schließlich über den Kopf wächst: Ortons Erfolg veränderte die Balance in seiner Beziehung zu Halliwell. Der sah sich immer mehr in die Rolle der vernachlässigten Hausfrau gedrängt, mißbilligte Ortons sexuelle Promiskuität und entwickelte zunehmend depressive Symptome.

Dieses Beziehungsdrama durchzieht unterschwellig auch Ortons Tagebücher: Szenen einer Ehe in Strindbergscher Manier, in der keiner die Kraft zur endgültigen Trennung findet. So kam es schließlich zum dramatischen Finale: Am 9. August 1967 schlug Halliwell seinem Lebensgefährten mit einem Hammer den Schädel ein und nahm sich dann mit einer Überdosis Schlaftabletten selbst das Leben.

Kinobesuchern dürfte diese Geschichte aus Stephen Frears Film „Prick Up Your Ears“ bekannt sein, der 1987 weitgehend nach der Vorlage der ein Jahr zuvor von dem Orton-Forscher John Lahr herausgegebenen Tagebücher gedreht wurde. Fast zehn Jahre später liegt jetzt auch die deutsche Ausgabe vor, in einer stilsicheren Übersetzung aller rüden Sprüche und Obszönitäten und angereichert um Lahrs Einführung und einen ausführlichen Kommentar und einen Anhang mit Fotografien. Man kann jetzt also nachlesen: die Chronik all der flüchtigen sexuellen Abenteuer, die einem aus dem Film in Erinnerung geblieben sind. Orton ist in Leicester zur Beerdigung seiner Mutter – und setzt sich von der Trauergesellschaft ab, um einen Typen aufzureißen. Er fährt unzufrieden von einer Theateraufführung nach Hause – und stürzt sich unterwegs in eine Orgie in den Katakomben einer öffentlichen Bedürfnisanstalt.

Schließlich der zweimonatige Urlaub im Mai und Juni 1967 im marokkanischen Tanger, das so etwas wie das Bangkok der sechziger Jahre gewesen sein muß: ein Eldorado für schwule Sextouristen, wo sich die Boys bei den Freiern die Türklinke in die Hand geben und Orton die verschiedenen Mohammeds durchnumerieren muß, um nicht den Überblick zu verlieren. Da kommt selbst bei ihm Überdruß auf: „Sogar Sex mit Jugendlichen wird monoton. Ekstase kann einen genau so leicht langweilen wie die Langeweile“. (25.6. 1967) Orton hat also noch durchaus Zeit für andere Themen. Viel Klatsch aus der Theater- und Popszene wird kolportiert: Laurence Olivier hat ein Prostataleiden; Mick Jagger ist wegen Drogenkonsums verhaftet worden. Es kommt sogar zu einem Treffen mit den Beatles, für die Orton ein Filmdrehbuch schreiben soll. Daraus wird dann nichts – aber die vier werden bei seinem Begräbnis seinen Lieblingssong „A Day in the Life“ singen. Im übrigen bestätigen die Tagebücher das Klischee vom Chauvinismus der englischen Working class. Orton läßt außer englischer Kultur nichts gelten: Die Amerikaner sind alle „Arschlöcher“, die Iren „verkorkste katholische Stricher“ (aber dann doch überraschend gut im Bett!). Obwohl es für diesen Nationalstolz eigentlich nicht viel Anlaß gibt: London erscheint als schmutziger, verfallender, trostloser Ort – die Metropole eines Landes, das den Krieg gewonnen, aber den Frieden verloren hat.

Joe Ortons Tagebücher zeichnen ein anderes Bild der sechziger Jahre als die heroischen Legenden der 68er. Wo diese, allesamt Kinder der Mittelschicht, noch einmal – vielleicht zum letztenmal – den romantischen Traum vom neuen Menschen träumten, wird bei Orton, dem Aufsteiger aus dem sozialen Niemandsland zwischen Kleinbürgertum und Subproletariat, der neue Typus des urbanen Zynikers sichtbar: „Ich glaube an die Erbsünde. Ich finde die Menschen zutiefst schlecht und unwiderstehlich lustig.“

Der eigene Vorteil – Sex und Karriere – ist das einzige, was zählt. Politik interessiert ihn nicht: Die linksliberalen Reformer findet er lächerlich; die Lockerung des Homosexuellenparagraphen läßt ihn kalt; und als während des Tanger- Aufenthalts im Nahen Osten der Sechstagekrieg ausbricht und die Situation für westliche Ausländer in Marokko nicht ganz ungefährlich ist, hat er weiterhin nichts als Sex & Drugs im Kopf. Hätte es damals schon eine Schwulenbewegung gegeben – Orton hätte sich ihr bestimmt nicht angeschlossen. Der amerikanische Kulturkritiker Christopher Lasch hat von einer „Kultur des Narzißmus“ gesprochen, die sich in den letzten dreißig Jahren im Westen herausgebildet habe – Orton ist ihr Chronist. Wollte man dem Antipsychologen Orton dennoch mit einer psychologischen Interpretation zu Leibe rücken, so würde man hinter all diesen Posen von Härte, Coolness und Virilität wahrscheinlich eine tiefe Unsicherheit und Verwundbarkeit aufspüren, die immer von neuem durch Demonstrationen der eigenen Potenz abgewehrt werden müssen: die Jagd nach Sex als permanente Selbstbestätigung. Knapp einen Monat vor seinem gewaltsamen Tod notiert Orton: „Bin spazierengegangen. Keiner, den ich aufgabeln konnte. Nur viele widerliche, alte Männer. Eines Tages werde ich selber ein widerlicher, alter Mann sein, dachte ich traurig. Aber es besteht Hoffnung, daß ich im besten Mannesalter sterbe.“ (14.7. 1967)

Diese Hoffnung sollte sich erfüllen. Wie zehn Jahre zuvor James Dean, der angry young man der fünfziger Jahre, erst durch seinen frühen Tod die Aufnahme in den Olymp der Popikonen errungen hatte, so war es auch im Fall Ortons der spektakuläre Tod, der das eigene Leben zum Kunstwerk, zum Kultfilm vollendete. Er hat das selbst gespürt: „Ich glaube fast, daß das eigentlich Faszinierende an Swift (wie auch bei Dylan Thomas, Brendan Behan und vielen anderen Autoren und Künstlern) sein Leben ist. Sein literarisches Werk rechtfertigt sicherlich nicht die Bedeutung, die man ihm zuschreibt.“ (29.3. 1967)

„Joe Orton: Die Tagebücher“. Herausgegeben von John Lahr. Aus dem Englischen von Anette Bretschneider und Sabine Griesbach. Rimbaud-Verlag, Aachen 1995, 392 Seiten, geb., 42 Abb. 48DM