Aus dem Nichts ein Zuhause schaffen

Stadtentwickung von unten: Indische und südafrikanische Slumbewohnerinnen helfen sich gegenseitig beim Kampf um Rechte und bei der Schaffung von Wohnraum  ■ Von Christa Wichterich

Wißt ihr, wie viele Personen eine Wasserstelle benutzen? Und ein Klo?“ fragt Sona. „Fünfzig“, antwortet ein Mann. „Hundert“, eine Frau. „Also, ihr wißt es nicht!“ stellt Sona fest. „Ihr müßt es aber wissen, wenn ihr von der Stadtverwaltung Wasserleitungen fordert.“ Und dann schwärmt sie mit den Frauen und Männern in Block C des Townships Piesang River im südafrikanischen Natal aus und zählt: Wie viele Personen leben in jeder der erbärmlichen Behausungen? Wie lange schon? Wer ist erwerbstätig? Wo ist die nächste Dusche, die nächste Schule, die nächste Gesundheitsstation?

Sona kommt aus dem fernen Indien, und sie ist keine hochdotierte Expertin des Entwicklungshilfegeschäfts. Was sie dafür qualifiziert, den Bewohnern von Piesang River eine Lektion zu erteilen, sind ihr Wohnort und ihre Erfahrung. Sie wohnt auf dem Bürgersteig in der Apna-Road in Bombay und ist Barfuß-Siedlungsplanerin. Die jämmerliche Hütte, die sie mit ihrem Mann aus Holzplanken und Wellblech zusammengeschustert hat, klebt wie ein häßlicher Ausschlag an der Mauer eines alten Bürgerhauses im Zentrum der indischen Metropole und schließt mit der Bordsteinkante ab, an der sinnenbetäubend der städtische Verkehrssturm vorbeidonnert.

Sona ist Mitglied einer Frauengruppe in der Apna-Road, organisiert vom indischen Selbsthilfeverband SPARC („Gesellschaft zur Förderung von Gebietsressourcenzentren“), und Akteurin in einem ungewöhnlichen Projekt: internationale Kooperation von Obdachlosen- und Slumbewohnerorganisationen. Seit 1981 findet – finanziert vom Aachener Hilfswerk Misereor – regelmäßiger Pendelverkehr zwischen Bombay und Südafrika statt, Ideenaustausch über den Indischen Ozean hinweg, zwischen SPARC und der „Vereinigung der Slumbewohner“ auf der indischen Seite und den Gruppen „People's Dialogue“ und „Vereinigung der Wohnungslosen“ auf der südafrikanischen Seite. Die Beteiligten taufen die Zusammenarbeit „die Allianz“ – Vernetzung von Slum zu Slum, von Bürgersteig zu Bürgersteig.

Was Sona in Natal vorexerzierte, nutzt die 1985 in Bombay gegründete SPARC seit Jahren als Ausgangspunkt für politische Forderungen: selbstermittelte Fakten und Daten. Den Township-Siedlern in Südafrika erging es bisher kaum besser als den Bürgersteigbewohnern in Bombay. Sie wurden immer nur gezählt, und eben diese Zahlen wurden gegen sie verwandt. Eigennützig pflegen Behörden die Zahl der Haushalte in illegalen Siedlungen zu unterschätzen, um weniger Infrastruktur bereitstellen zu müssen.

Als die Bewohner von Piesang River mit Hilfe der Gäste aus Bombay ihre eigenen Wohnverhältnisse in ein Raster faßten, eroberten sie ein Terrain, das bisher ein großes Mysterium für sie war: Stadtplanung auf der Basis von Statistik. Nach ein paar Stunden hatten sie ein sozioökonomisches und infrastrukturelles Profil ihrer Siedlung erstellt und eine selbstgezeichnete Landkarte. Und sie spürten es: „Eigene“ Zahlen sind Macht, Verhandlungsmacht. Auf Basis dieses Wissens konnten sie von der Verwaltung Infrastrukturleistungen fordern.

Seit dem Ende der Apartheid haben die Township-Bewohner in Südafrika eine bittere Lektion gelernt: Befreiung und Demokratisierung lösen nicht die Überlebensprobleme der Armen. Als die ersten Mitglieder von „People's Dialogue“ 1992 nach Bombay kamen, packte sie Fassungslosigkeit angesichts der Straßenzüge voll Wohnungselend aus Pappkarton, Sperrholz und Plastikplanen, angesichts der Staffeln dicht stehender Patchwork-Kabuffs. Die Hälfte der elf Millionen Bewohner der indischen Metropole lebt in Slums.

Panisch, daß Bombay die eigene Zukunft darstellen könnte, fragten die südafrikanischen Besucher: „Wie kann eine demokratische Regierung zulassen, daß ihre Bürger so leben?“ – „Wartet mal ab, wie es euch ergeht“, warnte damals Jockin von der indischen „Vereinigung der Slumbewohner“, „uns hat die Regierung nach dem Befreiungskampf auch Milch und Honig versprochen, und ihr seht, was wir jetzt haben.“

Südafrikas Obdach- und Landlose müssen auch im Postapartheidzeitalter um Ressourcen kämpfen. Bau- und Wohnungsmarkt sind zu einem Tummelplatz der Korruption geworden. Die politischen Strategien, die sich im Befreiungskampf bewährt haben, sind nicht tauglich für die Auseinandersetzungen mit der gewählten Regierung. „So wie die Befreiungskämpfer Probleme mit ihrer neuen Rolle als Regierung haben, haben wir Probleme mit unserer neuen Rolle als soziale Bewegung“, stöhnt Joel Bolnick von „People's Dialogue“.

Die indischen „Alliierten“ haben gegenüber ihren südafrikanischen Partnern einen Erfahrungsvorsprung: Nicht abwarten, was die Regierung macht, und dann erst reagieren, sondern offensiv eigene Vorstellungen entwickeln und Rechte verlangen, empfahlen sie. Deshalb formulierte die „Vereinigung der Wohnungslosen“ in Johannesburg 1994 ihre eigene Wohnungspolitik. „Es ist ein demokratisches Recht armer Leute, ihre eigene Entwicklung zu planen“, lautet der Einleitungssatz.

Genau dieses Recht haben die „Alliierten“ aus Bombay sich in den letzten Jahren genommen. Die dabei gewonnenen Erfahrungen geben sie nun weiter. Denn sie haben viel gemeinsam, die Bewohner am Rande der städtischen und bürgerlichen Ordnung: Illegalität, Landlosigkeit und die ständige Gefahr der Vertreibung.

Es sind vor allem die Frauen, die die Rechtlosigkeit und die Unwägbarkeiten einer Slum-Existenz auszubaden und abzufedern haben. Ob in Johannesburg oder Bombay – sie wollen noch die heruntergekommenste Bruchbude zu einem „trauten Heim“ machen. „Wir Frauen“, sagt die kräftige Thandi aus der Kapregion, „sind der Mörtel, der die Haushalte zusammenhält.“ Sie sind dafür verantwortlich, daß Wasser und Energie verfügbar sind, obwohl es keine Wasser- und Stromleitungen gibt. Sie fangen das Regenwasser auf, das durch das verrottete Wellblechdach tropft. Sie fühlen sich zuständig, wenn die Kinder herumstreunen, weil sie sich „zu Hause“ nicht aufhalten können, wenn die Tochter mit 15 schwanger ist und der Sohn mit Drogen und Diebesbeute nach Hause kommt.

Das Schlimmste, sagen Sona, Sheinaz und Lakshmi aus Bombay, sind die Vertreibungen. Ein Alptraum, den etliche mehrmals durchlebt haben. Am Vormittag, wenn die Stadtverwaltung sicher sein konnte, daß die Männer auf Arbeit oder Arbeitssuche waren, rückten die städtischen Rollkommendos mit ihren Bulldozern überfallartig zur „Säuberung“ an. Die Frauen konnten gerade noch ein paar Kochtöpfe und die schreienden Kinder zusammenraffen, dann war auch schon alles Hab und Gut kurz und klein geschlagen, platt gewalzt und auf Lastwagen weggekarrt. Zurück blieben die Frauen mit den jämmerlichen Resten ihrer Existenz und ihrer Verzweiflung. Ein paar Tage später rammten sie meist in derselben Straße wieder vier Stöcke in den Boden, wickelten einen Sari darum und versuchten erneut, der Stadt ein paar Quadratmeter Wohnrecht abzutrotzen.

Verhindern lassen sich Vertreibungen nicht, denn Bürgersteigbesetzungen sind illegal. Doch im vergangenen Jahrzehnt haben die Frauengruppen gelernt, sie anders zu bewältigen. SPARC bewirkte per Gerichtsurteil, daß Vertreibungen angekündigt werden müssen. Wenn die Ordnungshüter nahen, laufen jetzt in Windeseile Frauen aus allen Nachbarstraßen zusammen und bauen selbst die Hütten ab. Statt auf ein paar heulende wehrlose Anwohnerinnen trifft die Polizei nun auf ein paar hundert singende Frauen. Mit der Gemeinschaftsaktion retten sie nicht nur ihre wenige Habe, sondern nehmen dem Ereignis auch das Traumatische.

Hier lernte Indien von Südafrika. Die Frauen von SPARC übten ein, was die Slumbewohner in Südafrika in ihrem jahrzehntelangen Kampf gegen die Apartheid perfektioniert haben: Solidarität und Widerstand. In Bombay standen die verschiedenen Religionen, Kasten und Regionalidentitäten einem „Wir-Gefühl“ lange im Weg. Doch jetzt weiß Sheinaz: „Allein können wir nichts schaffen, nur in der Gruppe.“

Was die Frauengruppen zusammenschweißt, sind gemeinsame Sparkonten. Sie sparen in zwei Töpfe: ein Notfallfonds für die häuslichen Tragödien und eine Sparkasse der Baugenossenschaft, die sie gegründet haben. Dieser Sparfonds ist der Einstieg in eine gemeinschaftliche Zukunftsplanung. Einige Frauengruppen von SPARC, die nach jahrzehntelangem Ringen von der Stadtverwaltung ein Stück Land in den Außenbezirken Bombays zugewiesen bekamen, bauen dort jetzt ihre eigenen Häuser, nach eigenem Design, finanziert aus Ersparnissen und einem Kredit der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft.

Die Umgebung dieser Neubausiedlungen hat nichts Anheimelndes. Windhosen spielen Kreisel mit Plastiktüten, Papier und anderem Abfall. Aber für die Menschen ist dies ein Ort der Hoffnung: Hoffnung auf ein Leben in gemauerten vier Wänden, auf legalem Untergrund, mit einem festen Dach über dem Kopf. Was hier entsteht, ist ein wahres Baufrauenmodell. Es sind die Frauen, die das meiste für den Bau auf die hohe Kante legten und mit Hilfe einer Architektin ihre Träume und vagen Ideen von einem Haus zuerst einmal in ein Pappkartonmodell umsetzten. Sie lernten, das Baumaterial zu kalkulieren, Mörtel anzurühren und zu mauern und haben Stein auf Stein ihre eigenen vier Wände errichtet.

Nach indischem Modell haben die Townshipgruppen von „People's Dialogue“ in Südafrika Spargemeinschaften gebildet und „BIT-Zentren“ – Bau-, Informations- und Trainingszentrum – eingerichtet. Mindestens zwei Millionen Wohnungen müßten in Südafrika gebaut werden. 1,2 Millionen Familien verdienen so wenig, daß sie für Banken nicht kreditwürdig sind. Staatliche Subventionen richten sich an Familien mit einem Mindesteinkommen von mindestens 1.200 Rand. Das Durchschnittseinkommen liegt jedoch bei nur 700 Rand. Aber genau sie, die Ärmsten, haben in den Baugenossenschaften von „People's Dialogue“ innerhalb weniger Jahre ein paar Millionen Rand gespart.

Als im März 1995 Township-Spargemeinschaften die Grundsteine für die ersten Häuser in der Genossenschaft legten, war dies ein Wechsel auf eine erste selbstgestaltete Zukunft, 6,5 Meter im Quadrat. Die Gruppe, die das Musterhaus fertigstellte, hatte gelernt, die eigenen Backsteine und Dachziegel kommerziell zu produzieren. Das Haus, das ein Bauunternehmer für 24.000 Rand bauen wollte, kostete sie so nur 9.100 Rand. Zwischen fünfhundert und tausend Eigenheime jährlich sollen ab jetzt unter der Regie von „People's Dialogue“ entstehen. Zehn Millionen Rand hat Südafrikas Wohnungsbauministerin Sankie Mthemi-Nkondo kürzlich für die Organisation draufgelegt.

Geldgeber dafür zu gewinnen war äußerst schwierig. Daß „Experten“ von Kontinent zu Kontinent und von Konferenz zu Konferenz jetten, ist selbstverständlich. Aber Slumbewohner, die acht Stunden fliegen, um sich die Erfahrungen anderer zunutze zu machen – das gilt als Geldverschwendung. „Es gibt uns illegale Siedler überall“, meint Sona, „und wir müssen uns gegenseitig helfen. Wir fordern nichts Unverschämtes.“