Schulautonomie ist eines der wichtigsten bildungspolitischen Themen der neunziger Jahre. Schulen sollen selbständiger werden, unabhängiger von bürokratischen Fesseln. Lehrer, Schüler und Eltern sollen über die Inhalte, ja sogar über die Auswahl der Lehrer selbst entscheiden können. Eine Schule, die sich weitgehend selbst verwaltet, soll selbst bestimmen können, wofür sie welches Geld ausgibt. In einigen Bundesländern laufen bereits Modellprojekte. Mißtrauisch macht allerdings, daß die Forderung nachmehr Autonomie für die Schule gerade in Zeiten der Finanznot in den Mittelpunkt der Diskussion rückt. Von Anja Dilk

Selbst ist der Schüler

Im Bremer Schulzentrum Horn sitzen alle an einem Tisch: Lehrer und Schüler, Eltern und „nichtunterrichtendes Personal“. Als Mitglieder der Schulkonferenz entscheiden sie alle gleichberechtigt über Unterrichtsplanung, Profil der Schule oder die Länge des Unterrichts. Sie legen fest, wieviel Geld für Computer und Inventar, für Schulhofbegrünung und bauliche Maßnahmen ausgegeben werden soll. Denn in Bremen ist sie schon auf den Weg gebracht: die Schulautonomie.

Mehr Autonomie für die Schule – diese Forderung ist zu einem der wichtigsten bildungspolitischen Themen der 90er Jahre geworden. Nach der Denkschrift der nordrhein-westfälischen Bildungskommission vom Oktober 1995, verlangte Hessens Kultusminister Hartmut Holzapfel Anfang des Jahres eine radikale Umgestaltung des Schulalltags und mehr Gestaltungsfreiheit für die Schule.

Autonomie heißt konkret: In finanziellen und inhaltlichen, in organisatorischen und personellen Fragen sollen die Schulen selbständiger werden, sollen sie mehr mitreden, unabhängiger von bürokratischen Fesseln und der Schulaufsicht werden. Gedacht ist an eine Schule, die sich weitgehend selbst verwaltet, die sogar selbst Gewinne erwirtschaften darf. Autonomie meint auch Demokratisierung. Alle, die an der Schule beteiligt sind, sollen mitentscheiden, Lehrer, Schüler, Eltern.

Bereits seit 1992 haben zahlreiche Landesregierungen, allen voran Hessen, Bremen und Hamburg, Schulgesetze erlassen, die den Handlungsspielraum der Schulen schrittweise erweitern. Das Hamburger Schulgesetz, das Dienstag vergangener Woche durch den Senat ging, erlaubt den Schulen, über eigene Finanzmittel zu verfügen und selbst Geld zu erwirtschaften. Die Bremer Regelung, 1995 beschlossen, erweitert nicht nur die Entscheidungsspielräume der Schulen, sondern fährt auch die Schulaufsicht zurück.

Schulautonomie scheint ein gangbares Rezept gegen Schulmisere und Finanzkrise gleichermaßen. „Die Zeiten sind vorbei, in denen Schule wie ein Zollamt betrieben werden kann“, sagt Klaus-Jürgen Tillmann, Professor für Pädagogik an der Universität Bielefeld. Daß die Forderung nach mehr Autonomie für die Schule gerade in Zeiten der Finanznot wieder an die Spitze der bildungspolitischen Diskussion tritt, macht manche mißtrauisch. Wird hier ein Sparkonzept, ideologisch umgedeutet, als pädagogische Reform verkauft, fragen Skeptiker. Die Skepsis auf Seiten der Gewerkschaften ist inzwischen vorsichtiger Zustimmung gewichen. „Die Ressourcenknappheit ist einfach Fakt“, sagt Wolfgang Böttcher, Bildungsreferent der GEW, „da ist es sinnvoller, wenn alle mitmachen.“

Unbehagen gibt es vor allem bei den Lehrern. Denn mehr Mitsprache von Schülern und Eltern könnte ihre individuelle Autonomie einschränken. Die autonome Schule verlangt mehr Teamarbeit, pädagogische Diskussion, oftmals Mehrarbeit. „Gerade den älteren Kollegen fällt es schwer“, sagt der Bremer Schulleiter Jürgen Hildebrand, „nach 30 Jahren noch mal komplett umzudenken, vor allem wenn fraglich ist, ob der Mehraufwand überhaupt im Verhältnis zum Nutzen steht.“ Unumstritten ist eine starke Mitwirkung der Eltern nicht. Der Deutsche Lehrerverband befürchtet eine Entprofessionalisierung der Schule. Ist es richtig, wenn Architekten oder Hausfrauen bei pädagogischen Inhalten oder der Schulorganisation mitbestimmen? „Es ist nötig, Eltern partnerschaftlich einzubeziehen und nicht nur zu rufen, wenn sie Kuchen für das berühmte Schulfest backen sollen“, sagt Peter Hennes, Vorsitzender des Bundeselternrates. „Uns geht es darum, daß sie eher das Profil mitbestimmen als die konkrete pädagogische Arbeit.“

Heftig unter Beschuß geraten ist der Gedanke der Profilbildung. Für die einen notwendiger Gestaltungsspielraum, sehen die anderen darin den ersten Schritt zur inhaltlichen Beliebigkeit. Wenn Schulen selbst ein individuelles Schulprogramm festlegen könnten, sei die Vergleichbarkeit gefährdet, befürchten konservative Lehrerverbände. Abschlüsse würden entwertet, Eingangsprüfungen für Studienanfänger unvermeidbar. „Die Profilbildung ist Blödsinn“, kritisiert Heinz Durner, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes in München. „Das führt zu einer Ungleichbehandlung von Schülern.“ Der Pädagoge Klaus-Jürgen Tillmann argumentiert dagegen: „Die Fächer sind so stark verwurzelt, daß sie kaum Gefahr laufen, ausgehebelt zu werden.“

Autonome Schulen sollen auch selbst wirtschaften. „Wir können einfach besser entscheiden als ein Verwaltungsbeamter, ob wir eine Verstärkeranlage für die Mensa oder einen neuen Satz Englischbücher brauchen“, resümiert Klaus Kilian, Leiter der Bettina-von-Arnim-Schule in Berlin.

Gewerblich tätig werden können Schulen freilich bislang nicht. Bereits jetzt aber dürfen sie Sponsoren gewinnen, Basare veranstalten oder ihre Turnhallen vermieten. Doch was ist, wenn in Zukunft andere Einnahmequellen für die Schulen immer wichtiger werden? Kritiker befürchten, daß Schulen so in Abhängigkeit geraten könnten. Wer sponsert, könnte sich auch inhaltlich einmischen wollen. Werden so womöglich soziale Ungleichheiten verschärft: Schulen mit sattem Finanzpolster, engagierten Eltern und guter Ausstattung in bürgerlichen Gegenden versus heruntergekommene in sozial schwachen Gebieten?

Nichtsdestotrotz: Die Schulen werden sich wirtschaftlichen Überlegungen nicht länger verschließen können. So treten die Grünen entschieden dafür ein, die Wirtschaftlichkeit im Bildungsbereich nicht länger zu tabuisieren: „Unsere Kinder lernen, daß es nicht nötig ist, auf die Mittel zu schauen. Und wir überlassen den nächsten Generationen hochverschuldete Haushalte“, sagt Sybille Volkholz vom Bündnis 90/Die Grünen in Berlin.

Ein Patentrezept für den Weg aus der Schulmisere ist Autonomie sicher nicht. Aber sie bietet neue Chancen für zeitgemäße, demokratische Reformen an deutschen Lehranstalten. Denn die Erfahrungen der vergangenen Jahre, die Klagen über Schüler mit sozialen Defiziten, über Gewalt an den Schulen und überforderte Lehrer haben gezeigt, daß es wieder einmal an der Zeit ist, Schule neu zu denken. Inwieweit sich mehr Autonomie bewährt, bleibt abzuwarten. Ein Anfang ist sie allemal.