■ DDR? BRD? Ost? West? Bei der Fußball-EM ist die Klassenfrage ausnahmsweise mal nicht von Bedeutung
: Fremd im eigenen Stadion

Ich war schon immer für Deutschland. Jedenfalls im Fußball. Da sogar für das falsche. 1974 zum Beispiel, beim Finale der Weltmeisterschaft. Ein Dutzend Leute, allesamt Philosophiestudenten der Ostberliner Humboldt- Universität, hatte sich vor dem Fernseher versammelt. Was für eine Häme, als die Holländer gleich in der ersten Minute durch einen Elfmeter in Führung gingen! Was für ein betretenes Schweigen, als Breitner ausglich und Gerd Müller den Siegtreffer erzielte! Und was für unverwandte Blicke, als ich die allgemeine Stille mit einem lauten Torruf unterbrach und heftig in die Hände klatschte! Ob die das gleich an die Stasi gemeldet haben? Endlich ein triftiger Grund, meine Akten bei der Gauck-Behörde einzusehen. Aber vielleicht fühlten sie im Innersten wie ich. Beckenbauer, Overrath, der leider etwas indisponierte Netzer – solche Künstler mußte man doch einfach lieben. Die spielten sich ins Herz noch des verhärtetsten Marxisten.

Ein Triumph der DDR-Mannschaft wäre mir gleich lieb gewesen. Leider waren die nur Weltmeister in Freundschaftsspielen. Im spielerischen Ernstfall versagten sie notorisch. Kaum, daß sie sich einmal für ein wichtiges Turnier qualifizierten. Und dann schafften sie es ausgerechnet 1974. Um den Nervenkitzel ins Unerträgliche zu steigern, führte die Auslosung zur Vorgruppe auch noch die Deutschen Ost und West zusammen. Wann hat es in den deutsch-deutschen Verhältnissen je einen solch gebieterischen Zwang zur Parteinahme gegeben? Wann einen würdigeren Anlaß für DDR-Patriotismus als in jenem wahrhaft historischen Augenblick, da unser aller Torwart Jürgen Croy den Mittelfeldstrategen Hamann (hieß der so?) bediente, der einen kühnen 50-Meter-Paß direkt vor Sparwassers Füße schlug. Als der dann auch noch traf und den Bundesdeutschen die einzige Niederlage auf ihrem Weg zum Titelgewinn bescherte, hatte sich der utopische Horizont der ansonsten etwas müde gewordenen Gesellschaft wieder geöffnet. Hundert Olympiasiege haben nichts Vergleichbares bewirkt. Hier ging noch was, und sei es auch schief, wie in der Zwischenrunde gegen Brasilien.

1990 war dann wieder eine große Zeit. Ich meine natürlich Italien, nicht die Wende in der DDR. Die war in diesem Sommer schon gelaufen. Aber wer diesmal Weltmeister werden würde, war noch völlig offen. Fest stand nur, daß die Ostdeutschen wieder einmal keine Rolle spielen würden. Sie hatten sich, wie üblich, schon in der Ausscheidung verabschiedet. Revolution zu machen schien ihnen wichtiger. Schade. Glücklicherweise wetzten die Westler die Scharte aus. Keine Künstler diesmal, aber doch noch immer prächtige Handwerker.

Damals war ich in Hannover, mitten unter meinen neuen, siegverwöhnten Landsleuten. Jeden Abend bezog ich Position in einer nahe der Universität gelegenen Kneipe. So auch beim Halbfinale gegen England. Die Entscheidung fiel erst im Elfmeterschießen, zugunsten der Deutschen. Ich wußte mich vor Jubel kaum zu halten. Und wieder erntete ich dieselben distanzierten Blicke. Die kühlen Niedersachsen teilten meine helle Freude nicht. Sie freuten sich wie einst meine Kommilitonen – zutiefst verschämt. Nur war's in Niedersachsen nicht der Klassenfeind, dem man den Sieg mißgönnte. Eher schien es, als sollte „Deutschland“ nicht gewinnen, nicht nach „Auschwitz“. Da ahnte ich mein neues, altes Schicksal: Fremder im eigenen Land. Das Endspiel, das „wir“ dann gewannen, verfolgte ich in meiner Wohnung, bei geschlossenen Fenstern. Es war wie eine im stillen vorweggenommene Einheitsfeier.

Heute herrscht Fußball-Alltag. Vorwegzunehmen gibt es nichts mehr. Höchstens den Euro. Aber wer will den schon. Auch können, Höhepunkte des guten Alten, Deutsche nicht mehr auf Deutsche treffen. Die spielen jetzt gemeinsam. Das heißt sie und er. Die aus den alten Ländern und der aus dem Osten, Matthias Sammer, einer von altem Schrot und Korn. Der jagt über den Rasen, als ginge es um mehr als nur ums Bare. Um die Ehre, irgendwie. Ein Ossi als Leitwolf, das tut gut. Dann kann er auch noch ganze Sätze sprechen – phänomenal, der Mann. Ein bißchen fremd in dieser Truppe bei dem IQ.

Und die einstigen Idole? Der Lothar mag nicht mehr. Und ob die Jüngeren noch mögen, weiß man nicht genau. Jedenfalls scheinen sie nicht mehr zu können. Nicht mehr richtig, mit Herz. Natürlich, ein paar Könner gibt es noch: Andy Möller (wenn er nicht gerade an der Welt verzweifelt) und „Icke“ Häßler. Ansonsten Wasserträger und motorisch Gehandikapte. Wenn Klinsi über den Platz stolpert und den Ball dann ohne jeden bösen Willen doch hineintut, denke ich wehmütig an Joachim Streich, der das mit purer Absicht vollbrachte. Zu Reuter und Kohler fällt einem ohnehin nicht sehr viel ein. Helmer ist sympathisch. Aber das waren die Jungs im Osten ja auch.

Nur beherzigten sie eine Tugend, die den Edelkickern zwischen Saar und Elbe nach und nach abhanden kam: sie waren schweigsam. Freilich hatten sie auch allen Grund dazu. Dennoch, sie spielten, gingen vom Platz, und wenn es hernach noch für ein kurzes Interview reichte, war das schon viel. Wir mußten nichts von Ehekrisen hören, vom Zoff mit Mitspielern oder dem Trainer. Auch von Spielerfrauen und ihrer unverzichtbaren Mission vor wichtigen Spielen erfuhr man nichts. Aufstellungen wurden dekretiert, nicht diskutiert, schon gar nicht öffentlich. Trainerwechsel gelangten durch amtliche Verlautbarungen ans interessierte Publikum. Rückfragen zwecklos. War das schön! Vor allem schön ruhig. Man konnte sich die Woche über ganz auf die kleinen Nebensachen des Lebens konzentrieren, auf die Familie oder den Beruf. Die Herzens- und Darmangelegenheiten von Leuten, deren einzige Rechtfertigung in dieser Welt darin besteht, stellvertretend für uns gegen den Ball zu treten, wurden dort verhandelt, wo sie hingehören – hinter den Kulissen der Öffentlichkeit.

Und so wünschen wir uns das auch wieder. Die Kerle sollen spielen und kuschen, es sei denn, es fragt sie einer. Aber wer könnte so einfältig sein, sich die Freude am Fußball ausgerechnet durch Nachfragen bei denen zu vergällen, die dieses Spiel betreiben? Zur Sache können sie ja ohnehin nichts sagen. Ist die ganze Faszination, die sie auf uns ausüben, doch einzig und allein darin begründet, daß sie nicht wissen, was sie tun. Das Bein ist klüger als der Kopf. Wolfgang Engler