Wer an Europa glaubt, kann nur hoffen, daß England nicht Europameister wird. Die heute beginnende Fußball-EM wird auf der Insel monothematisch abgehandelt: Gequält von der Gegenwart, beschwört das frühere Empire einmal mehr seine ruhmreiche

Wer an Europa glaubt, kann nur hoffen, daß England nicht Europameister wird. Die heute beginnende Fußball-EM wird auf der Insel monothematisch abgehandelt: Gequält von der Gegenwart, beschwört das frühere Empire einmal mehr seine ruhmreiche Vergangenheit. Man schwelgt in Erinnerungen an das WM-Finale von 1966. Nicht nur weil ausnahmsweise England gewann, speziell auch, weil Deutschland verlor.

Hofknicks vor dem eigenen Mythos

Die Symbolik war von Anfang an fragwürdig. Als der englische Fußballverband (FA) verkündet hatte, daß der Slogan für die EM 96 „Der Fußball kehrt heim“ heißen sollte, zerstörte er damit den unerschütterlichen Glauben an die Einzigartigkeit und Überlegenheit des englischen Fußballs: England, nicht einmal Großbritannien, hatte das Spiel erfunden, deshalb gehörte es uns und würde dies immer tun. Es war diese Tradition, die die vier britischen Nationen vor dem Zweiten Weltkrieg vom Weltfußballverband (FIFA) und den Weltmeisterschaften ferngehalten hatte. Sie ließ die Engländer auch dann noch glauben, daß sie die Besten der Welt waren, als die Resultate auf dem Spielfeld längst etwas anderes bewiesen hatten.

Dabei ist „Der Fußball kehrt heim“ nicht etwa ein herzlicher Willkommensgruß an die Adresse der Teilnehmerländer. Mit diesem Slogan feiert die Insel keineswegs das kosmopolitische Zusammentreffen der besten Fußballer Europas – ein Geschenk, das dem englischen Fußballpublikum selten genug gemacht wird. Im Gegenteil, der Spruch legt nahe, daß die letzten 30 Jahre Fußballgeschichte ein einziger Irrtum waren.

Mochten andere Länder Weltmeisterschaften und Europapokale dominiert haben, irgendwie war England immer noch der Platz, an dem das Herz des Fußballs schlug. Nun wurde dies durch die Veranstaltung eines richtigen Turniers bestätigt. Der Fußball kehrte schließlich „heim“. Dieser etwas beschränkte Blickwinkel auf die kommende EM wurde durch eine Flut nostalgischen Werbematerials noch verstärkt. Das PR-Material, das die FA für die EM 96 produzieren ließ, beschwört das Bild eines ländlichen und heilen Englands herauf. Eines Englands der sechziger Jahre, das sich noch Empire fühlen durfte, mit nur wenigen schwarzen Bürgern und keinem Sinn für Multikultur. Eines Englands, das nie existiert hat.

Die Nostalgie rankt sich besonders um das letzte Mal, das einzige Mal, wo Englands Anspruch mit der Wirklichkeit übereinstimmte: die WM 1966. Leute, die sich an dieses Ereignis erinnern, sind allgegenwärtig. Mitglieder des Weltmeisterteams von 1966 sind durch das Land gereist und haben ihre wohlkonservierten Erinnerungen zum Besten gegeben. Und die BBC zeigte diese Woche das damalige WM-Finale in voller Länge und zur besten Sendezeit.

An das Endspiel von 1966 erinnert man sich jedoch nicht nur so zärtlich, weil England gewonnen hat, sondern auch und vor allem, weil es Deutschland war, das verlor. In den Köpfen vieler Anhänger des englischen Teams war das nur die logische Fortsetzung der beiden vorangegangenen „englischen“ Siege über die Deutschen: 1918 und 1945.

Wie die Fußballfunktionäre eigentlich von Englands jüngster Rivalität mit Argentinien hätten wissen müssen, ist das Aufeinandertreffen auf dem Fußballfeld eine machtvolle Zugabe zu den Spannungen in der „richtigen“ Welt – besonders wenn eine hysterische Boulevardpresse offen rassistische Emotionen schürt. Die politischen Ereignisse der letzten Wochen haben die Gefahren eines Schwelgens in der großen Fußballvergangenheit nur allzu deutlich gemacht. Anders als beim Krieg auf den Falkland-Inseln (1982) waren die Verluste im Rinderkrieg mit Resteuropa auf Kühe beschränkt, die England notschlachten mußte. Aber die Konfrontation mit der EU, vor allem mit Deutschland, hat bereits im Vorfeld der EM die schlimmstmögliche Symbolik produziert.

Dieses Fußballturnier hätte vieles sein können. Für ein Land, das sich der europäischen Zusammenarbeit verschrieben hat, wäre es eine Gelegenheit gewesen, sein Interesse an der europäischen Idee zu demonstrieren. England jedoch hat, noch bevor ein Ball gekickt ist, sein Mißtrauen und seine Furcht vor den Nachbarn gezeigt. Die Sun hat ihren Lesern geraten, öffentlich deutsche Fahnen zu verbrennen und die Asche an Bundeskanzler Kohl zu senden. Die hanebüchene Gleichsetzung von „Krauts“ (eine in diesen Tagen recht geläufige Beleidigung) mit Nazis ist wohl die extremste und unverschämteste Offenbarung dieser Angst.

Aber zwei andere Ereignisse sind noch beschämender für Engländer, die sich nicht von der bigotten Raserei der Boulevardpresse beeinflussen lassen. Das erste war der absurde Streit über die Verwendung von Beethovens „Ode an die Freude“ als EM-Leitthema der BBC. Der Vorwurf kam zuerst vom Sunday Express. Dessen Kommentator meinte allen Ernstes, daß die Komposition eines deutschen Komponisten sich wohl nicht dazu eigne, die EM in England zu präsentieren. Unterstützt wurde der Kommentar, versehen mit einem spöttischen Bild des Komponisten in deutscher Fußballkluft, von Englands früherem Spielführer Terry Butcher, der bekannt ist für seine rechtslastigen Ansichten.

Das zweite Ereignis war Großbritanniens Veto gegen die Entscheidung des EU-Ministerrates, das Jahr 1997 zum „Jahr gegen den Rassismus“ zu erklären. Dies geschah nicht, weil Großbritannien mit dem Vorschlag nicht einverstanden war, sondern im Zuge der Kampagne für die Aufhebung des Rindfleisch-Exportverbots. Nichtsdestotrotz ist das ein trauriges Symbol für Großbritanniens Beziehung zu Resteuropa. Nun wird die EM nicht notwendigerweise von Gewalt und Rassismus der englischen Fans geprägt sein. Denn jenseits des Gegeifers der Boulevardpresse freuen sich die meisten Fans einfach auf den internationalen Fußball. Auch ist es nicht dem Fußball anzulasten, daß Großbritannien sich mal wieder von Europa isoliert hat.

Bei der Werbung für die EM geht es nicht nur um den Verkauf von Eintrittskarten oder darum, Fernsehzuschauer anzuziehen. Es ist auch eine Frage von Symbolik. Bis jetzt stammen alle Symbole aus der Vergangenheit. Statt die europäische Zukunft willkommen zu heißen, ist der Fußball zufrieden damit, in die Gewißheiten der Vergangenheit zurückzufallen und das Mißtrauen in Europa zu reflektieren, statt es herauszufordern.

In der letzten Woche vor dem Turnier hat sich die Aufmerksamkeit der Medien fast ausschließlich auf die Possen der englischen Spieler (allen voran Paul Gascoigne) gerichtet, die sich in einem Nachtclub in Hongkong betranken und danach im Flugzeug Schäden in Höhe von einigen tausend Pfund anrichteten. Das häßliche Image junger englischer Männer im Ausland konnte prägnanter nicht eingefangen werden. Auch das ist ein Symbol. Wo wir von Symbolen reden: Alle, die an Europa glauben, können nur hoffen, daß England nicht Europameister wird. Mike Ticher, London

Der Autor ist Gründer des englischen

Fanzines „When Saturday Comes“