„Meine Muschi surft im Internet“

Robert Wilsons Sci-fi-Schleichmusical „Time Rocker“ nach Songs von Lou Reed wird heute abend im Hamburger Thalia Theater uraufgeführt  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Bob Wilson hat das Theater vom Repertoire befreit und auf eine Erfahrung reduziert: die des Schauspielers im Bühnenraum. Den Bühnenraum hat Wilson leergefegt und definiert: Als Container seiner Ikonen, die aus dem Dunkeln kommen und darin wieder verschwinden. In den besten Momenten sind Darsteller und Accessoires ununterscheidbar.

Wilsons Hamburger „art musicals“ sind ein Kompromiß, weil der Komponist der Songs – für „Time Rocker“ ist es Lou Reed – sein eigenes Zeitmaß mitbringt. Selbst für gute Schauspieler ist es eine schwere Aufgabe, vom embryonalen Tasten, wie Wilson es liebt, umzuschalten auf Rock 'n' Roll. Nahezu unlösbar bleibt das Problem, deutschen Sprechtext mit englischem Songtext zu koppeln: Das Deutsche ist nun mal die Muttersprache der Schauspieler, das Englische nicht.

Besonders schmerzhaft schlägt das in den Gesangspassagen von Stefan Kurt durch, der die Intonation und das New Yorker Englisch von Lou Reed imitiert, aber mit fast sämtlichen Konsonanten gnadenlos auf Granit beißt. Er ist im Akkordgesang nicht sicher – die letzte Nummer, ein Duo „I'll be there on the run“, lief von seiner Seite aus bei der Hauptprobe völlig aus dem Ruder – und in den lauten Passagen bellend. Kurt ist der männliche Hauptdarsteller.

Das Ensemble des Thalia Theaters muß für Wilson und Reed alles können: introspektives Spiel, exzentrische Dynamik, pedantisch mechanisierte Choreographie. Es ist Sprechtheater mit unsichtbarem Mikrophon, Ballett und Singspiel, aber unter dem Diktat einer geometrisch gezirkelten Installation. Das größte Manko von „Time Rocker“ liegt darin begründet, daß vorzüglich funktionierende Gruppenszenen auf Hitparadenlänge terminiert sind. Gleich nach der Pause gibt es ein schauerliches Szenario mit eckig im Kreis laufenden Kapuzenmännern und bald darauf eine eklig lustige Szene mit jungfräulichen Studentinnen; beide Szenen sind viel zu kurz. Einem der flattrigen Collegegirls hat Darryl Pinckney, der Librettist, den memorabelsten Satz des Abends in den Mund gelegt: „Ich bin heiß wie eine Mikrowelle / Meine Muschi surft im Internet.“

Die Szenen richten sich nach dreierlei Personnage: der „verschwundene“ Wissenschaftler, der als Gespenst im Dunkel des Wissens unterwegs ist; die Inspektoren von Scotland Yard, die in seiner Bibliothek nur eigene Sehnsüchte finden; und den beiden aus dem Haushalt des „Doktors“ Geflüchteten: Nick, der Assistent, und Priscilla, die Haushälterin.

Gemeinsam sitzen sie im Skelett eines fliegenden Fisches, in dessen szenischem Inneren sie sich näherkommen: der hagestolze Musterschüler und die streetsmarte Gehülfin. Das reicht für diverse Scherze. Er: „Manche Gegensätze sind nie zu versöhnen.“ – Sie (zur Seite): „Ach, meint der uns?“ Wenn die Liebe eintritt, dann als mächtiges Klischee.

Allein Priscillas „I Wish I Had a Talking Book“ erinnert ans Bildungsgefälle des Paares. Annette Paulmanns Performance ist sicher und anrührend, ihre Stimme nicht groß, aber groß genug; ihr Englisch eigen, aber rund. Die Anonymisierung durch Wilsons Choreographie, seine Schleichmanie und seine Vervielfachung der Figuren haben spielende Frauen immer schon interessanter aufgefangen als deren männliche Kollegen.

Nicht umsonst sind Odysseus und Parzival auf ihren sehr unterschiedlichen Reisen allein. Mit dem simpel sich erkundigenden Paar (Haben Sie ... gesehen?) aus „Time Rocker“ ist den Stationen kaum Dynamik abzugewinnen. Der touristische Modus schlägt schon nach zwanzig Minuten durch. Vielleicht ist das Sci-fi-Motiv für Wilson und seine ultracoole Ausstatterin Frida Parmeggiani von vornherein zu unergiebig: Das Lustige an Zeitmaschinenreisen sind doch Parodien der einzelnen Epochen. In „Time Rocker“ (Zeitenschüttler) gibt es aber viel zuwenig Epochenkolorit. So bleibt fraglich, ob Nick und Priscilla gerade rückwärts oder vorwärts reisen. Das Motiv der Balance, die entpolitisierte Geschwindigkeit (Langsamkeit) in Wilsons Arbeit, tut dem Stoff nicht gut. Das können Pinckneys sozial schärfere Libretti nicht wettmachen.

Reed hat es einfacher, weil seine kurzen Songs zu Wilsons manieristischem Theater den Antipoden darstellen. Das Hamburger Musikerteam kann die Tempi genau: das Scheppern und Tockern und Stampfen; die beiden Gitarren haben Reeds Ökonomie, von tonlosen Impulsen bis zu den schwer nach Autounfall klingenden Soli, die mit blechernem Hall an ein Ungewisses rühren – an das Wilson mit seinen klinischen Mitteln nicht heranreicht.

„Time Rocker“ hat in allen drei Sparten (Bewegung, Text, Gesang) seine „schönen Stellen“, aber das Musical bleibt montiert – eine Spielzeugbaustelle des kulturellen Jet-Sets für aufgeklärte Bürger. New Yorkerese ist das Esperanto unserer Zeit. Jeder versteht es, aber keiner weiß, wie man es wirklich spricht.

„Time Rocker“. Regie: Robert Wilson, Musik: Lou Reed. Premiere heute, Thalia Theater, Hamburg. Danach 14., 16. bis 19. Juni