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Händewaschen nach dem Schuß

Im Prozeß gegen den Polizisten, der den 16jährigen Halim Dener erschoß, zeigt das Gericht bisher wenig Zweifel an den Darstellungen der Polizei  ■ Aus Celle Jürgen Voges

An jenem Abend des 30. Juni 1994 waren sie zusammen als Zivilstreife unterwegs, „zwei kurzhaarige dynamische Leute“, wie Frank Hensel, der Zeuge, beiläufig erwähnt. Heute trägt Frank Hensel einen dunklen Vollbart, er ist 34 Jahre alt, Polizist, Adresse: „Landeskriminalamt“. Ein „freundschaftliches Verhältnis“ verbindet ihn mit dem Kollegen aus demselben Sondereinsatzkommando, der am Ende jenes Streifengangs auf dem Steintorplatz in Hannover den 16jährigen Kurden Halim Dener erschoß. Hensel ist Zeuge, sein Kollege, der Polizeiobermeister Klaus T., Angeklagter.

Auch Klaus T. sieht anders aus als vor zwei Jahren. Ein Bart verdeckt sein Gesicht fast ganz, die blonden Locken hat er sich wachsen lassen. Er sitzt gebeugt links vor der Richterbank im fensterlosen Sicherheitssaal des Oberlandesgerichts in Celle und lauscht der Aussage seines Kollegen mit starrem Blick. Nach vier Verhandlungstagen stehen die Chancen von Klaus T. nicht schlecht, bald wieder auf SEK-Zivilstreife gehen zu können – vielleicht mit erneut verändertem Aussehen. In dem Schuß aus nächster Nähe in den Rücken des Kurden sieht der Staatsanwalt eine fahrlässige Tötung. Der Verteidiger Klaus T.s will „auf Freispruch plädieren, wenn alles so weiterläuft“.

„Wir haben den Türken dann genommen und auf den Rücken gelegt“, sagt der Zeuge Hensel aus. Er hatte den getroffenen Jugendlichen noch verfolgt, wollte ihn festnehmen, bis der „plötzlich langsamer wurde, Schlangenlinien lief und auf einen Fahrradständer stürzte“. Danach sieht Hensel „das blutende Loch im Bauch“. Über Funk ruft er den Notarzt. Klaus T. erklärt ihm „sinngemäß, daß er geschossen und den Türken getroffen habe“. Hensel fühlt den Puls. Als der schwächer wird, legen die SEK-Beamten die Beine des Jugendlichen hoch. Eine Menschentraube sammelt sich. Es gab „Schwierigkeiten mit diesen anderen Personen“, sagt Hensel vor Gericht: „Wir mußten schon um unser Leben fürchten.“ Halim Dener macht dann noch „ab und zu Atemzüge“. „Aber bis zum Eintreffen des Notarztes lebte er noch“, versichert Hensel: „Ich dachte, die Ärzte würden das wieder hinkriegen.“

Die Ärzte stellen kurz darauf den Tod fest. Zur Aufklärung der genauen Todesumstände können oder wollen in diesem Prozeß weder Frank Hensel noch sein angeklagter Kollege beitragen. Klaus T. hat Halim Dener verfolgt und zu Fall gebracht. Den auf dem Bauch Liegenden nahm er von oben in eine Art „Schwitzkasten“. Danach will er auf dem Boden neben dem Jugendlichen seinen Dienstrevolver erblickt haben. Dann versagt das Erinnerungsvermögen des Angeklagten. Auch Hensel hat nicht gesehen, daß sein Kollege schoß.

An eine der Bänke auf dem Steintorplatz gelehnt, so stehen die beiden SEK-Beamten Streife, als sie zunächst „vier Türken, die da plakatierten“ erblicken. „Dann fuhr ein Streifenwagen vorbei. Die Personen versuchten zu verbergen, was sie taten.“ Nur deswegen seien sie langsam zu den Jugendlichen hingeschlendert, versichert Hensel. „Zwei, die gerade nicht plakatierten, entfernten sich, als wir kamen.“ Die beiden anderen laufen erst weg, als „der Kollege die Dienstmarke zeigte und ich laut und deutlich Polizei sagte“.

Sicher, der Zeuge Hensel kann „gut sehen“, bemerkt aber damals nur, „daß die Grundfarbe der Plakate rot war“, kann sich „nicht erinnern“ an den großen gelb-grünen PKK-Stern. „Den Inhalt der Plakate kannte ich damals gar nicht.“ Allerdings ergreift er drei noch nicht verklebte Plakate, die „auf einem Blumenerdeballen lagen“, als „Beweismittel“, bevor er „in vollem Lauf“ dem zweiten Plakatierer hinterherrennt. Da hört Hensel einen Knall und weiß sofort, „daß das ein Schuß war“. Er dreht sich um, sieht seinen Kollegen „in einer Aufwärtsbewegung“ und den „im Weglaufen begriffenen Türken“.

Hensel will zunächst Halim Dener für den Schützen gehalten haben und ist kurz davor, seine eigene Waffe zu ziehen. „Erst zwei, drei Meter hinter ihm sah ich, daß er nichts in den Händen hatte, daß er keine Waffe hatte.“ Bald darauf bricht der 16jährige gefährliche Plakatierer harmloser roter Plakate zusammen.

Oberstaatsanwalt Nikolaus Borchers will nur eines von Hensel wissen: „Ist es üblich, die Waffe zu ziehen, wenn man einen Fliehenden verfolgt?“ Der SEK-Beamte verneint pflichtgemäß. Am zweiten Verhandlungstag hatte der Vorsitzende Richter Reinhard Sievers den Angeklagten gefragt: „Sie haben Ihre Waffe doch nicht gezogen?“ Das hatte auch Klaus T. verneint. Wie erwartet. So fürsorglich der Vorsitzende mit dem Angeklagten umgeht, dem Vertreter der Nebenklage, dem Anwalt der Eltern Halim Deners, bellt er ständig dazwischen. „Ist das jetzt alles?“ und „Wir wollen auch noch nach Hause“, tönt es vom Richtertisch, als der Bremer Rechtsanwalt Hans-Eberhard Schultz einen Moment zu lange in einem Aktenordner blättert.

Der Bremer Rechtsanwalt spricht in den Pausen hin und wieder mit den Vertretern des kurdischen Juristenverbandes, die als Beobachter im Zuschauerraum sitzen. Unter den Richtern geht dagegen die Kurdenangst um. Mit der Begründung, den Angeklagten vor der PKK schützen zu müssen, wird der Prozeß statt in Hannover im Sicherheitssaal des Oberlandesgerichts Celle geführt. Außerdem verlangten die Richter ein gepanzertes Auto für die Fahrten. Das Landesjustizministerium hielt das für übertrieben.

Der Zeuge Hensel hat seine Aussage mit dem Justitiar des Landeskriminalamtes besprochen. Auch nach mehrfachen Nachfragen des Rechtsanwalts Schultz bleibt er dabei: Es ging am Steintorplatz um eine routinemäßige Personalienfeststellung, die nur zufällig in der Verfolgungsjagd und dem Todesschuß endeten: „Wenn einer vor der Polizei wegrennt, dann besteht auch der Verdacht auf eine Straftat.“ Zwar wußte Hensel damals „aus dem Fernsehen“ vom Verbot der PKK. Aber das entsprechende LKA-Merkblatt mit allen PKK-Symbolen, das Schultz ihm vorhält, hat der SEK- Beamte nie zu Gesicht bekommen. Auch die Berichte über die ersten Autobahnblockaden von PKK- Anhängern kannte er nicht, sagt er. „Schußwaffengebrauch wäre gerechtfertigt gewesen“, hatte die hessische Polizeigewerkschaft nach den Blockaden geschrieben – wenige Wochen vor dem Todesschuß in Hannover.

Zum Zustand der Tatwaffe äußert sich an diesem Prozeßtag der LKA-Schußsachverständige Clemens Künneke: Sie „funktionierte völlig störungsfrei“. Mit den Händen zeichnet er einen der Fallversuche nach, die er mit dem Trommelrevolver gemacht hat. Künneke schließt definitiv aus, daß sich der Hahn hinten an der Waffe von selbst vorspannen kann, wenn diese zu Boden fällt. Ohne den Hahn vorzuspannen, muß man an den Abzug der Smith & Wesson ein Gewicht von 4,3 Kilo hängen, damit ein Schuß ausgelöst wird.

Demgegenüber hatte die hannoversche Polizeispitze schon am Morgen nach der Tat behauptet, der Schuß habe sich versehentlich gelöst. Auch die Anklage gegen Klaus T. geht später von einer Schußabgabe durch einen Reflex während eines Gerangels aus. In der Tatschilderung des Angeklagten Klaus T. kommen das Gerangel, der angebliche Kampf am Boden inzwischen jedoch nicht mehr vor. Aber weder Staatsanwaltschaft noch Richter fragen nach. Das tut Schultz für die Nebenkläger. Fragen der Nebenklage beantwortet der Angeklagte jedoch grundsätzlich nicht. Ihr gegenüber beruft er sich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht. Deshalb hatte der Nebenklagevertreter schon am dritten Prozeßtag beantragt, das Gericht möge Klaus T. zu dem abhanden gekommenen Gerangel befragen. Der sonst souveräne Staatsanwalt Borchers empörte sich: Klaus T. habe das Gerangel doch nicht erfunden: „Dahinter steht der Vorwurf der Strafvereitelung im Amt.“

An die Tage nach der Tat erinnern sich die Beteiligten verschieden. Als Dienstälterer hatte Frank Hensel das Kommando auf dem gemeinsamen Streifengang, „diesem schwärzesten Tag meines Lebens“. Er habe noch nie einen Menschen gesehen, der „so fertig und so verzweifelt“ gewesen sei. „Er war am Ende“, sagt Hensel über seinen Kollegen. Der Arzt, der den beiden SEK-Beamten am frühen Morgen des 1. Juli Blut abnimmt, protokolliert hingegen für den Angeklagten: „Stimmung unauffällig, Verhalten völlig normal, beherrscht“.

Hensel will dem Kollegen „helfen, durch diese dusselige Situation durchzukommen“. Er fährt mit Klaus T. zur SEK-Wache, bevor der zur Tat vernommen werden kann. Dort treffen bald ihr Gruppenleiter und der SEK-Dienststellenleiter ein. Stundenlang debattieren die SEK-Polizisten den Todesschuß – gemeinsam mit dem Schützen. Zwischendurch führt Hensel den Angeklagten zum Händewaschen, „weil die Hände so blutig waren“. Auch Schmauchspuren, die Hinweise auf die Haltung der Hände bei der Schußabgabe hätten geben können, fallen so der Seife zum Opfer. Die Mordkommission, die später in der SEK-Dienststelle eintrifft, ist entsetzt. Hensel heute: „Es war ein Fehler, daß ich mit dem Händewaschen dafür gesorgt habe, daß Spuren beseitigt wurden.“

Gericht und Staatsanwaltschaft folgen bisher der polizeilichen Sicht der Ereignisse. Doch die paßt nicht zu allen Zeugenaussagen: Er habe den Angeklagten hinter dem Opfer mit gezogener Waffe herlaufen sehen, sagt am fünften Verhandlungstag der kurdische Zeuge Murat K. Sofort beantragt Nikolaus Borchers die Protokollierung dieses Satzes. Nicht, weil der Kurde den Angeklagten belastet, sondern um gegen den Zeugen später wegen Falschaussage ermitteln zu können. Am heutigen Mittwoch wird der Prozeß mit der weiteren Vernehmung des Zeugen Murat K. fortgesetzt.

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