Über das Sehen beim Wandern in Zeiten der Beschleunigung

■ Sich im Gehen die Umwelt und Landschaft mit allen Sinnen aneignen. Ein Buch über Erlebnislehrpfade weist die Richtung

„Wer geht, sieht am Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt.“ Mit dieser Devise von Johann Gottfried Seume, der 1802 zu Fuß von Leipzig nach Syrakus (und wieder zurück) gegangen war, wußte das nachfolgende Zeitalter der Beschleunigung schon bald nicht mehr viel anzufangen. Erst die Hochgeschwindigkeitsgesellschaft scheint Langsamkeit als etwas fast schon Fremdes neu zu entdecken: Wo immer heute über die mögliche „Entschleunigung“ des Daseins nachgedacht wird, rückt auch das „Gehen“ wieder in den Blick – Gehen nicht nur als die dem Menschen gemäße Form der Fortbewegung, sondern auch als ein Weg, sich Umwelt und Landschaft mit allen Sinnen neu anzueignen. Die geradezu sprunghafte Vermehrung jener Arrangements, die Landschaft in Form „thematischer Wanderwege“ für uns aufzubereiten suchen, weist ganz in diese Richtung. Am weitesten scheint man diesbezüglich in der Schweiz: Insgesamt 171 Beispiele aus den Bereichen Astronomie, Bahngeschichte, Geologie, Industrie, Kultur, Landwirtschaft, Natur und Rebbau finden sich in dem Buch „Erlebnis Lehrpfade der Schweiz“. Das Angebot umfaßt neben traditionellen Heimatschutz- oder Naturlehrpfaden auch Ausgefallenes wie den „Witzwanderweg“ von Heiden nach Walzenhausen, den „Kirschenweg“ Sissach–Rheinfelden, einen „Brotlehrpfad“, einen „Lernweg Huftiere, Katzen, Vögel am Wasser“ sowie einen „phänologischen Lehrpfad“, auf dem man den Stand der Vegetation beobachten kann. Dazu kommen allein 18 „Planetenwege“ und fünf Sinneslehrpfade.

Siebzehn dieser Wege stellt das Buch in Wort und Bild ausführlich vor. Zum Beispiel den „Köhlerweg“ im Napfbergland (Kanton Luzern). Fürwahr: Wer kann sich heute noch etwas unter dem beinahe ausgestorbenen Beruf eines Köhlers vorstellen? Der Weg führt zu den letzten leibhaftigen Köhlern der Schweiz, zeigt am Modell und in natura, wie Holzkohle in meterhohen Meilern gewonnen wird, und ganz nebenbei auch, wie dieses Gewerbe den Wandel der Kulturlandschaft beeinflußt hat. Auf dem „Sentiero delle meraviglie“ im Kanton Tessin hingegen, dem „Pfad der Wunder“, begegnen wir längst aufgelassenen Stollen von Erzschürfern und Goldsuchern, alten Getreidemühlen und einer Hammerschmiede – bescheidene Versuche früherer Generationen, in einem ländlich-peripheren Gebiet zu überleben. Wer der Malerei zugetan ist, darf auf dem „Sentiero Segantini“ in Maloja (Graubünden) die Landschaftsbilder dieses Malers „mit der Realität vergleichen, auf ihre Genauigkeit hin überprüfen und neue Erkenntnisse über Malweise und Standortwahl“ des Künstlers gewinnen.

Stets also geht es (auf) diesen Wegen darum, wandernd tiefere (und auch neue) Bezüge zur begangenen Landschaft herzustellen, oder umgekehrt: das Vorhandene (aber nicht Wahrgenommene) sichtbar zu machen, zu erkennen und zu erleben.

Thematische Wanderwege bieten folglich keine „Pauschalreisen en miniature“, wo alles vorgeplant, arrangiert und bereitet ist. Sie setzen vielmehr Neugier, eigenes Denken, Kombinieren und Probieren voraus. Die Stationen (oder Installationen) am Wegrand sind im besten Fall nur unaufdringliche „Sehhilfen“, die – wie die literarischen Zitate auf dem „Robert- Walser-Pfad“ in Herisau – „aufwecken und aufrütteln“, ohne uns mit fertigen und eindeutigen Antworten zu entlassen. Werner Trapp

Ruth Michel Richter und Konrad Richter: „Erlebnis Lehrpfade der Schweiz. Band 1: Industrie, Landwirtschaft, Kultur“. AT-Verlag, Aarau 1995. 144 Seiten mit 192 Farbfotos, 54 DM