"Die Gewaltfreiheit ist stärker"

■ Der Dalai Lama meint: Vielleicht ist Tibet schon in zwei oder drei Jahren frei. Er möchte seine Heimat zur entmilitarisierten Zone und zur parlamentarischen Demokratie machen

Am Donnerstag war das geistliche und politische Oberhaupt der Tibeter Ehrengast bei der 50-Jahrfeier des Südwestfunks in Baden-Baden, wo Franz Alt ihn für die taz interviewt hat.

taz: Heiligkeit, zur Zeit werden auf der Erde über 50 Kriege geführt. Was empfehlen Sie als Friedensnobelpreisträger und Gandhi- Schüler in dieser Situation?

Dalai Lama: Der äußere Unfrieden ist Ausdruck unserer inneren Friedlosigkeit. Wenn wir für den Frieden um uns arbeiten wollen, dann müssen wir zuerst Frieden in uns finden. Unsere persönliche Friedensarbeit ist immer auch politische Friedensarbeit. Darauf hat Buddha in seiner Lehre ebenso hingewiesen wie Jesus in seiner Bergpredigt.

Aber trotz Ihres starken und langen Friedensengagements seit Jahrzehnten haben auch Sie für Tibet noch keinen Frieden erreichen können. Durch die chinesische Besatzung starben über eine Million Tibeter, und Tausende Ihrer Landsleute sind noch heute wegen ihrer politischen und religiösen Überzeugung im Gefängnis.

Das ist leider wahr. Aber trotzdem bin ich felsenfest davon überzeugt, daß die Gewaltfreiheit bald über die Gewalt siegen wird. Es gibt in der Geschichte viele positive Beispiele für meine Überzeugung.

Könnten Sie sich vorstellen, daß auch für den Dalai Lama eine Situation kommt, wo er sagt, jetzt kommen wir mit Gewaltfreiheit nicht mehr weiter, jetzt müssen wir auch zur Gewalt greifen?

Dies wird nicht der Fall sein. Sollte eine Mehrheit der Tibeter dafür sein, daß der Freiheitskampf mit Gewalt geführt wird, dann würde ich mich von meiner Verantwortung zurückziehen und zurücktreten. Meine Politik hat bisher kein positives Resultat für die Lage in Tibet gebracht: Aber andererseits hat meine Politik des mittleren Weges dazu geführt, daß viele intellektuelle Chinesen und Studenten ein stärkeres Interesse an Tibets Schicksal zeigen. Die chinesische Demokratiebewegung zeigt Solidarität für den Freiheitskampf der Tibeter. Mit Gewalt wäre eine solche positive Entwicklung nicht möglich gewesen.

Sie beklagen auch die ökologische Zerstörung Tibets.

Waldrodungen haben zu großem Kahlschlag geführt. An vielen Orten wird Raubbau an Bodenschätzen getrieben. Außerdem werden heute in Tibet chemische Anlagen gebaut, wo die dort arbeitenden Chinesen das Wasser nicht trinken dürfen. Das Wasser gelangt jedoch in die Flüsse, und die tibetische Bevölkerung hat gar keine andere Wahl, als es zu trinken. Wir haben Informationen, daß in vielen Gegenden Tibets inzwischen nuklearer Abfall gelagert wird. Sicher ist auch, daß es dort an einigen Orten Atomwaffen gibt. Diese ökologischen Probleme sind deshalb so gravierend, weil Tibet ein Hochland ist. Wenn hier Schaden entsteht, dann ist es sehr schwierig, diesen Schaden jemals wieder zu beheben. Die großen Flüsse Asiens haben ihren Ursprung in Tibet. Und wenn hier eine Verschmutzung stattfindet, dann kann diese Auswirkungen auf viele Nachbarländer haben.

Im Mai 1995 hat Sie in Bonn erstmals der deutsche Außenminister empfangen. Aber wegen des Drucks der Chinesen hat der Bundeskanzler es bis heute nicht gewagt, Sie einzuladen. Wäre ein persönliches Gespräch mit dem deutschen Regierungschef für Tibet hilfreich?

Das wäre sicher hilfreich, weil es seine Wirkung auf Peking nicht verfehlen würde. Aber ich möchte dem Bundeskanzler keine Schwierigkeiten bereiten.

Wenn Tibet eines Tages frei sein wird: Wie sehen Sie die politische Zukunft Ihres Landes?

Ich möchte, daß Tibet eine entmilitarisierte Zone des Friedens und der Gewaltfreiheit wird. Mein Land soll eine parlamentarische Demokratie mit einem Mehrparteiensystem werden. Wenn es nach mir ginge, würde es schon bald freie Wahlen geben.

Welche Rolle streben Sie persönlich in einem freien Tibet an?

Keine politische Rolle. Ich möchte mich auf eine Ratgeberfunktion beschränken.

In einer unserer früheren Begegnungen haben Sie mir einmal gesagt, Sie hätten die Vision, daß Tibet bis zum Jahr 2000 ein freies Land sei. Halten Sie trotz zunehmender Menschenrechtsverletzungen auf dem Dach der Welt, wie sie soeben auch von amnesty international festgestellt worden sind, an dieser Vision fest?

Ja. Ich bin sicher, Tibet wird ein freies Land werden. Die genaue Jahreszahl kann ich natürlich nicht nennen. Es kann schon in zwei oder drei Jahren sein. Manchmal entwickeln sich auch positive Veränderungen schneller, als von den meisten erwartet. Denken Sie an Osteuropa, an den Friedensprozeß in Nahost oder auch an das Ende der Apartheid in Südafrika. Ich bin fest davon überzeugt, auch das grausame Leiden des tibetischen Volkes wird bald ein Ende haben. Interview: Franz Alt