China wütet gegen das Bild des Dalai Lama

■ Selten war die Unterdrückung in Tibet so brutal. Die Geduld der Tibeter geht zu Ende: Inzwischen wehren sich auch junge Mönche mit Steinen gegen die Schikanen

Berlin (taz) – Was lange gärt, wird langsam Wut: Als Anfang Mai chinesische Offizielle im Kloster Ganden in Tibet auftauchten und sämtliche Fotos des Dalai Lama entfernen wollten, versuchten die Mönche noch, mit ihnen zu reden. Doch die Repräsentanten der Besatzungsmacht saßen grinsend auf einer Mauer und verweigerten jedes Gespräch. „Die Mönche begannen zu tanzen. Sie waren nicht gewalttätig, sie bewegten sich um den Hof und sangen“, berichtet ein europäischer Reisefotograf.

Als die Chinesen jedoch auf der Konfiszierung aller Abbilder des spirituellen Oberhaupts der Tibeter beharrten, begannen junge Novizen mit Steinen zu werfen. Die buddhistische Doktrin der absoluten Gewaltfreiheit war für zehn Minuten außer Kraft gesetzt. Die meisten der Attackierten flohen. Ein von einem Stein Getroffener – laut Berichten ein Tibeter, der für das von der Besatzungsmacht installierte „Komitee für religiöse Angelegenheiten“ arbeitete – flüchtete sich in ein Gebäude, das für die chinesischen Bewacher des Klosters eingerichtet worden war. Mönche und Novizen brachen die Tür auf, schlugen auf ihn ein und zerrten ihn in den Hof. „Er war blutüberströmt“, so der Fotograf.

Die Rache war verheerend: Sechs Stunden später näherten sich laut tibetischen Augenzeugen sechs Lkw mit chinesischen Soldaten dem Kloster. Die Truppen bezogen Stellung auf den umliegenden Hügeln und stürmten das Kloster. Ergebnis: ein Toter und zahlreiche Verletzte; zwischen 61 und 90 Mönche wurden verhaftet. Die meisten Mönche flohen in die Berge, darunter laut tibetischen Quellen mehrere Verletzte. Die chinesische Führung hat auf ihre Ergreifung Kopfgelder in Höhe von umgerechnet 600 US-Dollar ausgesetzt. Auch in anderen Klöstern ist es in den vergangenen Wochen zu Unruhen gekommen.

Am 16. Mai beorderte die chinesische Besatzungsmacht Schüler der Mittel- und Oberschulen zu Versammlungen und informierte sie, daß der Besitz von Dalai-Lama-Bildnissen absolut verboten sei. Auch das „Sung Du“, das um den Hals oder das Handgelenk getragene rote Bändchens mit von einem Lama hineingeknoteten „Schutzknoten“ sei ab sofort untersagt. Chinesische „Sicherheitskräfte“ veranstalten seither Hausdurchsuchungen nach Bildern des Dalai Lama.

Etwa 1,2 Millionen Tibeter sollen seit der Besetzung des Landes durch die Chinesen im Jahr 1950 getötet worden sein. Menschenrechtsorganisationen bezeichnen die angeblich „autonome Provinz“ der Volksrepublik als „Labor zur Erprobung von Foltermethoden.“ Die Zahl der politischen Gefangenen beträgt mehrere Tausende. Über 100.000 der geschätzten sechs Millionen Tibeter flohen ins Ausland, viele in Gewaltmärschen über die schneebedeckten Berge des Himalaya ins indische Dharamsala. Dort residieren der Dalai Lama und ein gewähltes 46köpfiges tibetisches Exilparlament. Durch die gezielte Ansiedlung von Han-Chinesen – die Bevölkerungsmehrheit der Volksrepublik – sind die Tibeter zur Minderheit im eigenen Land geworden.

Tibetbeobachter sind sich einig: Selten war die chinesische Repression so groß wir heute. Ausmaß und Brutalität erinnern an die Zeit der Kulturrevolution. Deutlichstes Beispiel bietet das Schicksal des Pantschen Lama, der Nummer zwei in der spirituellen Hierarchie der tibetischen Buddhisten. Nachdem der Dalai Lama vor einem Jahr den damals sechsjährigen Gendun Choekyi Nyima zum elften Pantschen Lama erklärt hatte, verschwanden der Junge und seine Eltern spurlos. Die chinesische Führung dementierte, irgend etwas damit zu tun zu haben, und erklärte den sechsjährigen Sohn eines KP-Kaders zum „echten“ Pantschen Lama.

Und es mehren sich Anzeichen, daß die chinesische Führung auch den Dalai Lama „ersetzen“ will. Der Träger der Friedensnobelpreises von 1989 habe „den Buddhismus verraten“ hieß es unlängst in in Tibet erscheinenden chinesischen Zeitungen, die Tibeter sollten sich von ihm als religiöses Oberhaupt lossagen; Tibets Unabhängigkeitsbewegung sei eine Schlange, deren Kopf man abschlagen müsse. Ereignisse wie in dem Kloster Ganden dürften sich dann häufen. Thomas Dreger